Zum Andenken an Tante Tanja
Im Januar 1955 besuchte ich Saratow zum ersten Mal. Mein Vater war das letzte Mal noch in der Vorkriegszeit dort gewesen; dann kam der Krieg, danach die Verbannung. Ende 1954 wehte bereits ein Wind von Freiheit. Meinem Vater gelang es, eine Dienstreise nach Moskau zu erwirken, zu der er mich mitnahm. Von Moskau gelangten wir für kurze Zeit nach Saratow, wo wir bei der Witwe von D. N. Smirnow, dem Lieblingslehrer meines Vaters, Halt machten. Es gibt nur Weniges, woran ich mich erinnern kann, aber ich weiß noch, wie wir vor einem zweistöckigen Haus standen, in dem einst mein Vater gelebt hatte.
Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, bis ich den Wunsch verspürte, selbst nach Saratow und Baronsk zu reisen. Zu diesem Zeitpunkt war es uns bereits gelungen, unseren Familienstammbaum bis zum Erstansiedler Karl Friedrich Rauschenbach zu rekonstruieren. Dabei erfuhren wir auch viele andere interessante Dinge. Meine Tante Tanja (Tatjana Eduardowna Rauschenbach, 1908-2010) interessierte sich brennend für alle Einzelheiten unserer Familienforschung und ergänzte die trockenen Datenmaterial in den Dokumenten mit Geschichten aus ihrer Kindheit. Da sie sich auch als Hundertjährige noch ihr ausgezeichnetes Gedächtnis bewahrt hatte, konnte sie sich noch gut an jenes Haus und jene Zeit erinnern.
Nina Nikolaewna Rauschenbach mit Valja und Tanja; Saratow, 1915
Und so kam es, dass ich im März 2008 zusammen mit meinem Sohn Valentin eine Expedition nach Saratow und in die deutsche Wolgaregion unternommen habe (wobei „Expedition“ vielleicht nicht ganz der passende Begriff für unseren kurzen, keine zwei Tage umfassenden Ausflug ist). Vor der Abreise besuchten wir erneut unsere Tante Tanja, um sie noch einmal über die Saratower Orte auszufragen, die für unsere Familie von Bedeutung sind, und anschließend unsere Marschroute durch die Stadt festzulegen.
Tatjana Eduardowna Rauschenbach. Moskau, 17.03.2008
Wir wählten unsere Marschroute so, dass wir gleich am ersten Tag diejenigen Objekte besuchen, inspizieren und fotografieren konnten, die für uns am interessantesten waren:
- die Tabakfabrik Stahf;
- das Massengrab der Opfer des stalinistischen Terrors auf dem Woskressenskoe-Friedhof, wo vermutlich die sterblichen Überreste meines Großvaters Eduard Alexandrowitsch Rauschenbach (1873-1937) ruhen,
- das Haus an der Kreuzung der Straßen „Proviantskaja“ und „Konstantinowskaja“ (heute „Sowetskaja“), das drei Rauschenbach-Brüdern gehörte.
Meine Tante, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feierte, zeichnete für uns das Haus an der Straßenecke Proviantskaja/Konstantinowskaja, in dem die Familien meines Großvaters sowie seiner beiden Brüder Vladimir und Viktor lebten:
Der Woskresenkij-Friedhof wirft keine weiteren Fragen auf. Punkt eins bedarf jedoch einiger Klärung.
Die Stahfs
Warum war die Tabakfabrik so interessant für uns, und wer sind die Stahfs (Staf, Staph, Staaf, Staff, Stahf – zu verschiedenen Zeiten wurde der Name jeweils unterschiedlich geschrieben)? Aus den „Aufzeichnungen“ V. E. Rauschenbachs (siehe Rubrik „Bibliothek“) geht hervor, dass der Mädchenname meiner Urgroßmutter Lydia Konstantinowna Rauschenbach – Ehefrau von Alexander Iwanowitsch Rauschenbach und Mutter von 13 Kindern – Stahf lautete. Laut den „Aufzeichnungen“ starb sie im Jahre 1925 im Alter von 75 Jahren. In den „Aufzeichnungen“ ist außerdem vermerkt, dass die Stahfs in der Kolonie Boregard (Boregar, Boregardt) lebten. In der Volkszählungsliste von Katharinenstadt (allerdings nicht in Boregard) aus dem Jahre 1857 ist die Familie von Konstantin Stahf und Johanna Stahf, geb. Miller, aufgeführt. Als eines ihrer Kinder ist die 6-jährige Lydia genannt. Johannas Mädchenname stimmte mit dem Mädchennamen meiner Urgroßmutter Christine überein, wobei das natürlich nicht viel zu sagen hat, denn in der Wolgaregion gab es mehr als genug Millers.
Das ist so ziemlich alles, was mir im Jahre 2002 bekannt war. Dann begann ich dank der Vermittlung von Vera Beljakova-Miller und Andrew Spencer eine Korrespondenz mit dem bekannten deutschen Journalisten Jürgen Stahf, einem Nachkommen von Kolonisten. Zum damaligen Zeitpunkt hatte Jürgen bereits Saratow und die deutsche Wolgaregion besucht. In Deutschland war es ihm gelungen, die Geschichte der Familie Stahf bis tief ins 16. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Große Hilfe leistete ihm dabei die Familienchronik, die sein Vater Edgar, der zu Beginn der Revolution aus Russland ausgereist war, verfasst hatte. Die Geschichte von Jürgens Nachforschungen ist erstaunlich interessant (http://www.rauschenbach.ru/de/die-geschichte-der-familie-stahf-bis-zum-j...).
Doch die Familienchronik der Stahfs enthielt weder etwas über meine Urgroßmutter noch über ihre Eltern, da diese einem anderen Zweig der Familie angehörten. Auch gab es einige Ungenauigkeiten, was bei Familienüberlieferungen aber unvermeidlich ist, wovon ich mich aus eigener Erfahrung überzeugen konnte. Anfang 2003 haben Jürgen und ich unsere Bemühungen um die Rekonstruktion des Familienbaums vereint. Während Jürgen mir sein Material zusandte, fragte ich beim Archiv der Wolgadeutschen (GIANP) an und bekam daraufhin von Elisaweta Moissejewna Erina und ihren Mitarbeitern Informationen über die Stahfs zugesandt, die beinahe das gesamte 19. Jahrhundert umfassen. Im Folgenden möchte ich einen Überblick über unsere gemeinsame Arbeit geben und den „Kern“ unserer Nachforschungen präsentieren.
Die erste Erwähnung unserer Stahf-Vorfahren findet sich im Kressenbacher Kirchenbuch vom 01.05.1608, wo von der Taufe eines Hans Staf die Rede ist. Hans Vater heißt Hen Staf, die Mutter – Anna Staf. Hen Staf (Hen ist vermutlich eine Kurzform von Hennrich/Heinrich) starb im Jahre 1613. Sein Geburtsdatum ist nicht bekannt. Klar ist nur, dass er in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geboren wurde.
Die nächsten beiden Generationen kamen ebenfalls in Kressenbach zur Welt, aber schon ab 1703 finden wir Aufzeichnungen über die Stafs in den Kirchenbüchern von Wallroth. Beide Orte liegen nahe beieinander und gehören heute zum hessischen Kurort Schlüchtern. Der künftige Erstansiedler Johann Peter Staaf kam am 06.12.1739 in Wallroth zur Welt, wo er am 21.01.1762 Maria Eva Schmidt heiratete.
Wie die meisten deutschen Landwirte, musste auch Hannpeter (wie er von seinen Dorfgenossen genannt wurde) eine nicht gerade geringe Pachtgebühr für den unfruchtbaren, felsigen Boden, den er bearbeitete, abtreten. Der Siebenjährige Krieg führte zum Bankrott vieler Betriebe; die meisten Landwirte mussten exorbitante Steuern und Abgaben leisten. Hannpeters Betrieb war verschuldet, ein Ausweg aus der Knechtschaft nicht abzusehen. Die Familienüberlieferung berichtet, wie Hannpeter eines schönen Tages im Frühling 1766, als er gerade sein Feld bestellte, eine lange Reihe von Fuhren erblickte. Es waren Bauern wie er selbst, die beschlossen hatten, ihr Glück in Russland zu versuchen, wohin sie von Kaiserin Katharina II. per Manifest eingeladen worden waren. Ohne lange zu zögern, warf Hannpeter seinen Pflug dort, wo er gerade stand, ins Feld, spannte sein Pferd ein, nahm seine Frau und das einjährige Kind und schloss sich dem Treck an. Dieses Ereignis war so außergewöhnlich, dass sein Heimatdorf noch zwei Jahrhunderte später die Erinnerung daran bewahrte!
Wie aus uns bekannten Dokumenten hervorgeht, kam Peter Staaf mit seiner Frau und dem Säugling Johann Nikolaus am 09.06.1766 mit dem Schiff „George“ in Russland an. Im darauffolgenden Jahr brachen die Staafs mit dem Transporter des Leutnants von Oldenburg zur Wolga auf und kamen am 07.07.1767 in Boregard an.
Später heiratete Nikolaus Anna Elisabeth Liehr; sie hatten zwei Söhne – Konrad (1793-1858) und Michael (1796-1864). Und hier trennen sich meine und Jürgens Wege, denn er gehört zu den Nachfahren von Michael und ich – zu den von Konrad.
Am Ende des 18. Jahrhunderts zog Nikolai Staafs Familie von Boregard nach Katharinenstadt um. Beide seiner Söhne wurden wohlhabende Kaufleute. Ende 18.-Anfang 19. Jahrhunderts hatte Familie Stahf zunächst in ihrem Heimatdorf, später auch in Saratow, Läden in Besitz. Konrad (nach russischer Art „Kondratij“) hatte acht Kinder. Sein Sohn Konstantin, geboren am 13.05.1819, war der Vater Lydia Konstantinownas und mein Ururgroßvater. Beachten wir, dass die Stahfs sich zwei Mal mit den Rauschenbachs verbanden: Nikolaus Stahf, der Sohn Michaels, heiratete Maria Florentina Rauschenbach, die Tochter Andreas Jakobs (siehe „Familienbaum“).
Tag 1. Saratow
In Saratow angekommen, machten wir uns als erstes zur Tabakfabrik Stahf auf. Sie ist sehr gut erhalten und produziert noch immer ihre gesundheitsschädliche Ware, heute allerdings unter der Schirmherrschaft der British American Tobacco:
Das Gebäude wurde Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, die Fabrik selbst Ende des Jahres 1828 von Kondratij Nikolaewitsch Stahf und seinem Bruder gegründet. Folgendes ist auf der Webseite http://www.cigarinfo.ru/week2012/tabakpro/12018.html zu lesen:
„In Saratow betrieb er (Kondratij) einen Laden, wo es Tee, Zucker, teure Weine, Tabak und sonstige „Kolonialwaren“ zu kaufen gab. Die Idee, eine eigene Tabakfabrik zu gründen, kam ihm im Jahre 1820, als ein Husaren-Regiment nach Saratow überführt wurde. Die Husaren kamen regelmäßig in seinen Laden und verlangten nach teuren Zigarren und Tabakprodukten, die aufgrund der schlechten Verkehrsanbindung aus den Hauptstädten nur schwer lieferbar waren. Also fuhr er gemeinsam mit seinem Bruder Michail nach St. Petersburg, wo er sich mit der Tabakproduktion vertraut machte, einen Meister aufsuchte, eine Tabakschneidemaschine kaufte und anschließend eine Partie Tabak der amerikanischen Sorte „Wagstaff“ nach Saratow bestellte.
Er eröffnete die Fabrik am 6. Dezember 1828. Anfangs befanden sich die Räumlichkeiten des Unternehmens in einem Keller. Die Rohstoffe für seine Fabrik bezog er aus dem Großhandel. Da der Transport dieser Rohstoffe nach Saratow sehr kostspielig war, brachte die Produktion nur wenig Profit ein. Obendrein verließ das Husaren-Regiment bald darauf Saratow und die Fabrik verlor ihren wichtigsten Abnehmer. Nun war Stahf gezwungen, sich auf einen Verbraucherkreis mit geringerer Kaufkraft umzuorientieren, doch dafür musste er zunächst seine eigenen Produktionskosten deutlich senken. Da kam ihm der glückliche Zufall zu Hilfe: der Gouverneur von Saratow, Fürst A. B. Galitzin, bekam Besuch von seinem Bruder, Fürst S. B. Golitzin, der in den Vereinigten Staaten Nordamerikas gedient hatte. Nach erfolgter Bekanntschaft mit K. Stahf, riet ihm Galitzin, den Tabak vor Ort anzupflanzen, um die Fabrik mit allen nötigen Rohstoffen versorgen zu können. Er versprach ihm außerdem, Samen zweier amerikanischer Tabaksorten – „Maryland“ und „Virginia“ – zuzuschicken, sobald er wieder nach Philadelphia zurückgekehrt sein würde. Doch der Fürst Galitzin sandte ihm eine so geringe Menge Samen, dass von einem Plantagenbetrieb gar keine Rede sein konnte. Und so wäre das Tabak-Unternehmen in Saratow beinahe geplatzt. Doch Staf ließ den Kopf nicht hängen: die Samen wurden in Blumentöpfe gepflanzt und alle Wohnräume des Hauses damit vollgestellt. Dank sorgfältiger Pflege wurde bald eine reiche Ernte eingefahren.
Zwei Jahre lang züchtete Stahf die Samen bei sich zu Hause weiter, bis er genug Saatgut für einige kleinere Plantagen beisammen hatte. Dann wurden die Samen jenseits der Wolga ausgesät, der angebaute Tabak wurde als Rohstoff für die Fabrik genutzt. Im Jahre 1836 wurden bereits 6931 Pud (1 Pud = 16 Kg) Tabak in die Fabrik geliefert“.
Der letzte Besitzer der Fabrik war Kondratij Alexandrowitsch Stahf, Enkel des Fabrikgründers und Onkel 2. Grades meines Großvaters Eduard (von Seiten Lydia Konstantinownas). Laut den „Aufzeichnungen“, hat Eduard Alexandrowitsch, nachdem das Gut der Familie liquidiert worden war (wovon der Bericht „Expedition 2013“ erzählt), Buchhalter-Kurse in Moskau absolviert und danach eine Anstellung in der Stahf-Fabrik gefunden. Heute wissen wir, dass das Familiengut nicht vor 1904 verkauft wurde. Am 1. November desselben Jahres wurde der Praporschtschick (Fähnrich) Eduard Rauschenbach aufgrund militärischer Vorgänge mobilisiert. Am 30. Januar 1907, einen halben Monat nach der Geburt meines Vaters Valentin, wurde er in den Ruhestand verabschiedet. Es ist davon auszugehen, dass seine Arbeitstätigkeit in der Tabakfabrik nicht vor 1907 begann und keinesfalls später als im August 1914, als mein Großvater in den Krieg einberufen wurde, endete.
Wie sah er zu dieser Zeit aus? Hier sehen wir ein Foto der sieben Brüder, das irgendwann zwischen 1910 und 1914 entstanden ist und nun die Titelseite unserer Webseite schmückt. Ganz links außen sitzt mein Großvater. Anlässlich dieser feierlichen Fotoaufnahme hatten sich die Brüder im Hause der Mutter, Lydia Konstantinowna, versammelt:
Auf den Aufnahmen von 1901 und 1910 sehen wir Eduard in einer etwas entspannteren Atmosphäre:
Von links nach rechts: Nikolai, Eduard, Viktor, Alexander; Saratow, 1901
Zu sehen sind Eduard (links hockend), Viktor (links liegend) und Alexander. Die anderen sind unbekannt; Saratow, 1910
In den 20er und 30er Jahren arbeitete Eduard Alexandrowitsch weiterhin als Buchhalter. Seine Familie wohnte in der Gogol-Straße 97, Wohnung 1. Auf dem unteren Bild, das Mitte der 30er Jahre entstanden ist, sehen wir ihn auf der Veranda dieses Hauses:
Wir haben das Haus in der Gogol-Straße 97 aufgesucht und fotografiert. Gewissheit darüber, ob es sich um das gleiche Haus handelt, gibt es aber nicht.
Eduard Alexandrowitschs letzte Arbeitsstelle war die Fabrik „Roter Schmied“. Im Jahre 1937 denunzierte ihn einer seiner Kollegen und meldete, dass sich mein Großvater anerkennend über die materielle Lage der Arbeiter in Deutschland aussprach und sie mit der Situation in der „ersten Nation der Arbeiter und Bauern in der Welt“ verglich. Doch das wird kaum der einzige Grund für seine Verhaftung gewesen sein: eine Welle ging durch das ganze Land, „von oben“ war eine Anordnung zur „Säuberung“ erlassen worden, die es um jeden Preis zu erfüllen galt, und hier war ein ehemaliger kaiserlicher Offizier. Es ist auch gar nicht klar, ob es nicht eigentlich ein Versehen war, als er in der Nacht auf den 8. Oktober abgeholt wurde. Möglicherweise war es gar nicht Eduard, der an der Reihe war, sondern Edgar Alexandrowitsch Rauschenbach (1895-1938, Enkel von Johann Karl Rauschenbach). Schon kurze Zeit nach der Verhaftung erschien ein Mitarbeiter des NKWD und begann Fragen zu stellen: „Wo sind eigentlich ihre Hühner hin?“ Dabei hatten Eduard und Nina überhaupt keine Hühner; es war Edgar, der ein leidenschaftlicher Freund dieser Vögel war. – Ein Jahr später wurde auch Edgar „abgeholt“.
Eduard Alexandrowitsch wurde am 15. Dezember 1937 erschossen. In einer ziemlich unansehnlichen Ecke des Woskresenskoe-Friedhofs wurde ein Massengrab für die Opfer der Repressionen der 30er und 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eingerichtet. Genaue Aufzeichnungen sind entweder nicht vorhanden oder unzugänglich. Bekannt ist aber, dass die Leichen der Hingerichteten eingeäschert und die Asche an genau diesem Ort bestattet wurde:
Für weitere Informationen über E. A. Rauschenbach und sein Schicksal siehe die Artikel „Karl Friedrich Rauschenbach und seine Nachkommen in Russland“ oder „Die Geschichte der Familie Rauschenbach in Russland“ (Rubrik „Bibliothek“).
Mein Vater schreibt in seinen „Aufzeichnungen“, dass Eduard und Nina Rauschenbach mit ihren zwei Kindern im Jahre 1914 in ihr eigenes Haus an der Straßenecke Proviantskaja/Konstantinowskaja umzogen. Dieses zweistöckige Haus, das mein Vater mir im Jahre 1955 zeigte, wurde von Eduard und seinen beiden Brüdern Vladimir und Viktor gemeinsam gekauft. Die Ehefrauen und Kinder der drei Hausbesitzer eingerechnet, lebten damals 12 Rauschenbachs in diesem Haus.
Das obere Haus wurde von der Straße „Sovetskaja“ (=Konstantinowskaja) aus aufgenommen. Der Eingang zu Eduards Wohnung befand sich an der Straße „Proviantskaja“; auf dieser Seite befanden sich auch die Fenster (1. Stock):
Die Fenster der Wohnungen im 1. Stock, in denen die Familien von Wladimir und Viktor lebten, befanden sich auf der Seite der Konstantinowskaja-Staße:
Drei Wohnungen im zweiten Stock wurden vermietet; in einer befand sich eine private Gesangsschule, in der zweiten eine Pension für Gymnasiastinnen, über die dritte ist mir nichts bekannt.
Im März 2008 machte das Haus einen deprimierenden Eindruck, wie viele andere alte Häuser in Saratow. Das Haus war zum Abriss bestimmt; aus Eduards ehemaliger 5-Zimmer-Wohnung war eine Kommunalwohnung geworden, in der lauter Zugereiste wohnten, die alle ganz eindeutig nicht aus Saratow stammten. Man ließ uns eintreten, wenn auch nicht ohne Angst, gestatte uns, einen Blick in einige Räume zu werfen, erlaubte uns aber nicht, Aufnahmen zu machen. Wir traten in den Hof hinaus, wo einst Valja, Tanja, Anja, Lida, Galja und Marina spielten. Der Hof war in einem noch schlechteren Zustand als das Haus.
Ein Jahr später, ebenfalls im Frühjahr, besuchten unsere Töchter Tanja und Mascha (mit ihrem Verlobten Andreas) Saratow. Sie machten dieses letzte Foto des denkwürdigen Hauses:
Heute steht an dieser Stelle ein Hochhaus. Zum Abschied und als Erinnerung an unser „Familiennest“ entfernten Andrej und Mascha das Schild mit der Straßenbezeichnung „Sowetskaja“ von der Hausfassade und nahmen es mit; heute hüten wir es sorgfältig.
Die nicht weit entfernte, ebenfalls in der Proviantskaja-Straße gelegene Stadtvilla von K. A. Staf hatte mehr Glück: sie wurde auf die Liste denkmalgeschützter Gebäude gesetzt und restauriert. Seit vielen Jahren befindet sich in diesem Haus nun eine Klinik für Haut-und Geschlechtskrankheiten:
Die Suche nach einer Reihe anderer Objekte, vor allem nach dem Haus in der Straße „M. Sergievskaja“, in dem meine Urgroßmutter Lydia Konstantinowna Rauschenbach (geb. Stahf, 1851-1929) vor der Revolution gelebt hat, blieb leider erfolglos. Möglicherweise gibt es einige der gesuchten Häuser gar nicht mehr.
An diesem Tag machten wir noch einen Abstecher zum Landesarchiv (GASO) sowie zum Archiv beim Standesamt, wo wir eine Bescheinigung über den Tod von L. K. Rauschenbach erhielten. Später unternahmen wir einen Spaziergang durch die Saratower Innenstadt.
Tag 2. Wiesenseite
Tag 2 war der deutschen Wolgaregion, genauer gesagt der am gegenüberliegenden Ufer von Saratow gelegenen Wiesenseite gewidmet. Tags zuvor hatten wir ein Auto mit Fahrer gemietet, ohne den wir weder in der Stadt noch in der Steppe weit gekommen wären. Auf dem Plan stand ein Besuch des Historischen Staatsarchivs der Wolgadeutschen in Engels, außerdem der ehemaligen Kolonien Niedermonjou und Katharinenstadt (Bobrovka und Marx). Unser Interesse für das Archiv, dessen Mitarbeitern (allen voran Elisaweta Moissejewna Erina) ich meine kostbarsten genealogischen Entdeckungen verdanke, ist verständlich. Zum ersten Mal nach 8 Jahren hatte ich nun die Gelegenheit, Volkszählungsbücher und andere Dokumente im Original zu begutachten und in meinen eigenen Händen zu halten. Hier wurde uns auch die Archivurkunde über die Kolonisten Grune übergeben. Bis heute ist nicht bekannt, ob es sich bei den Grunes um Verwandte unserer Ururur….großmutter Sofia Frederike handelt, aber es kann nie schaden, Dokumente zu haben.
Bobrovka
Niedermonjou war der erste permanente Siedlungsort der Rauschenbachs in Russland. Karl Friedrich kam hier mit seiner Frau am 3. August 1767 an. Davor wurden sie wie alle Kolonisten für den Winter irgendwo weit nördlicher, möglicherweise in der Nähe von St. Petersburg, untergebracht. Die Wolga erreichten sie mit dem Transporter des Leutnants von Ditmar. Von 1048 Menschen, die sich mit ihnen gemeinsam auf den Weg gemacht hatten, kamen 746 in Saratow an, 302 fanden unterwegs den Tod. Der Verlust von fast 30% ist durchaus vergleichbar mit der Sterberate während der Deportationen der Deutschen im Jahre 1941. Das ist erstaunlich, denn im Jahre 1767 lag es im Interesse der Regierung, dass möglichst alle Kolonisten, für die bereits viel Geld aufgewendet worden war, wohlbehalten an ihrem Siedlungsort ankamen und danach ihre Schulden beglichen. Nichtsdestotrotz betrugen die Verluste laut den erhalten gebliebenen Transportlisten durchschnittlich 12%. In unserem Fall lagen die Dinge sogar noch schlimmer. Auch die überlebenden Kolonisten befanden sich nach einem derart aufreibenden Übergang in einer schlechten körperlichen Verfassung.
Die Kolonie Niedermonjou wurde im Juni 1767 gegründet, im August hatte die Kolonie bereits 276 ständige Einwohner. Mehr als hundert weitere Familien wurden dort vorübergehend einquartiert, wo sie auf ihre Umsiedlung in andere Kolonien im Jahre 1768 warteten. Die Kolonisten lebten damals für gewöhnlich in Häusern, die speziell für sie gebaut wurden; in jedem Haus lebten in der Regel zwei Familien, die über separate Eingänge und Höfe verfügten. Das Saratower Büro für auswärtige Angelegenheiten verlieh an das Ehepaar Rauschenbach ein Paar Pferde und eine Kuh und vermutlich einen Vorrat an Futtermittel und Saatgut für die Bepflanzung im nächsten Jahr. Wie in allen deutschen Kolonien, wuchs in den folgenden Jahren im Dorf Niedermonjou die Bevölkerungszahl und die Fläche des landwirtschaftlich genutzten Bodens. Im Jahre 1910 hatte das Dorf 4126 Einwohner.
Plan der Kolonie Niedermonjou (entnommen aus dem Buch „Einwanderung in das Wolgagebiet 1764-1767, B. 3)
Die heutige Bevölkerungszahl von Bobrovka übersteigt keinesfalls die Einwohnerzahl von Niedermonjou im Jahre 1767. Die Hauptstraße (und einzige Straße) des Dorfes verläuft parallel zum Fluß Liesel. Die von Graf Orlow bestätigte geographische Anordnung des Dorfes wurde nicht verändert.
Menschen trifft man hier kaum, Deutsche gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Trotzdem haben wir Glück: wir treffen einen echten Deutschen, einen Nachkommen der Kolonisten obendrein! Alexej Karp wurde in der Verbannung im Altai geboren, kehrte aber vor relativ kurzer Zeit in die Heimat seiner Vorfahren zurück, um hier zu leben. Viele seiner Verwandten sind nach Deutschland ausgewandert, er aber wollte nicht: „Ich habe dort nichts zu suchen“. Hier hält er eine Kuh, führt einen Bauernhof, mit einem Wort: führt das Leben, das für ihn natürlich ist.
Sehenswürdigkeiten gibt es in Bobrovka nicht. Einst stand hier eine Kirche. In der Sowjetzeit wurde sie in ihre Bestandteile zerlegt und an einem anderen Ort in Form eines unschönen Gebäudes, in dem sich ein Verein und eine Bibliothek zugleich befanden, wiederaufgebaut:
Dieses Foto von der zur vorzeitigen Schließung verurteilten Einrichtung wurde im Jahre 2013 gemacht; ich bitte, diesen Anachronismus zu entschuldigen. Weitere Fotos von Bobrovka gibt es auf der Webseite von V. Kakorin zu sehen: http://imgsrc.ru/vovkakak/a441746.html .
Im Jahre 2008 sagte man uns, dass der alte Friedhof nicht erhalten geblieben sei. Aber stimmt das auch? 2013 haben wir den Friedhof von Bobrovka schließlich doch besucht, doch darüber berichten wir ein anderes Mal.
Marx
Im Jahre 1792 verließ Johann Gottfried Rauschenbach (1769-1843) Niedermonjou und zog nach Katharinenstadt. Dokumente von seiner Geburt besitzen wir nicht, aber seine Eltern konnten keine anderen gewesen sein als das Ehepaar der Erstansiedler: einen anderen Rauschenbach gab es weder damals noch später wieder an der Wolga, und vermutlich auch in ganz Russland nicht. In den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschien in Moskau allerdings ein Walter Rauschenbach, ein Antifaschist, der von den Nazis geflohen war. In Moskau arbeitete er als Leiter des deutschen Theaters „Kolonie links“, wirkte in dem Film „Die Kämpfer“ mit, dann fiel er in die Hände des NKWD und verschwand spurlos. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er auch nur entfernt mit uns verwandt ist.
Seit 1792 leben die Rauschenbachs also in Katharinenstadt, wie die Stadt von den Kolonisten genannt wurde. Dieses Dorf, das in der Nähe der Wolga liegt, wurde bald zur inoffiziellen Hauptstadt der Wolgadeutschen Region. Die Bevölkerung wuchs rasch (von 606 Einwohnern im Jahre 1767 auf 15370 im Jahre 1910), doch erst in der Sowjetzeit erhielt das Dorf den Status einer Stadt, zusammen mit einem neuen Namen: Marxstadt. 1941 wurde die deutsche Komponente „Stadt“ beseitigt. Die Hand gegen den Gründer der alles überwindenden Lehre zu erheben, wagte man jedoch nicht, und so blieb „Marx“ übrig, zu dem sich auch „Engels“ als neue Stadtbezeichnung gesellte (ehemals „Pokrowsk“).
In den Rubriken „Familiengeschichte“ und „Bibliothek“ kann man nachlesen, wie die Rauschenbachs in Katharinenstadt lebten und sich vermehrten. Meine Vorfahren verließen diesen Ort um 1860, darum interessierte uns von den Sehenswürdigkeiten vor allem der Friedhof, auf dem Johann Gottfried, seine Frau und deren zahlreiche Nachkommen ruhen.
Doch zuvor besuchten wir das Heimatkundemuseum, wo es diverse Alltagsgegenstände aus den Häusern deutscher Kolonisten zu sehen gibt:
Uhr
Trumeau
Auf der Webseite „wolgadeutsche.net“ ist ein Foto zweier Stühle zu sehen, die sich einst im Familienbesitz der Rauschenbachs befanden (http://wolgadeutsche.net/museum/2_10.htm):
Foto: J. Herber
Wer auch immer diese Rauschenbachs gewesen sein mögen – sie waren unsere Verwandte. Gerne hätte ich ein bisschen auf diesen Stühlen gesessen. Wir vermuteten, dass sie zum Bestand des Museums gehörten, doch unsere Hoffnungen wurden leider nicht erfüllt. Entweder waren sie in den Reservebestand des Museums übergegangen (wenn es so etwas überhaupt gibt) oder sie hatten eine andere Verwendung gefunden… Dank der Freundlichkeit der Museumsdirektorin Irina Nikolaewna Awramidi durften wir nicht nur die Museumsausstellung sehen, sondern auch ihren Gründer, Nikolai Wassiljewitsch Titow, kennenlernen, der sich einverstanden erklärte, uns den Friedhof zu zeigen. Der Friedhof befindet sich seit der Zeit der Vorrevolution unverändert am gleichen Ort, und Nikolai Wassiljewitsch erinnerte sich sogar noch an den schönen Grabstein in Form einer weiblichen weibliche Statue, der über der Familiengruft der Rauschenbachs stand.
Schade, dass dieses Denkmal nur in seiner Erinnerung bewahrt wird. Das Bild der vernachlässigten und geschändeten Gräber hat alle Erwartungen übertroffen. KEIN EINZIGER Grabstein ist heil geblieben, alles ist zerstört und verwüstet. Die heutigen Einwohner von Marx bestatten ihre Angehörigen einfach über den alten deutschen Gräbern – dort, wo es gerade möglich ist. Das ist aber nicht überall der Fall: die Gewölbe der Familiengrüfte sind so dick, dass sie nur mit Hilfe schwerer Ausrüstung oder mit Sprengstoff abgebrochen werden können. Weil zum Glück weder das eine noch das andere auf dem Friedhof von Marx Anwendung fand, wurden nur die Denkmäler zerstört, während die Grüfte heil geblieben sind. Damit sie nicht umsonst stehen und nicht als stumme Mahnung an die Vandalen des 21. Jahrhunderts verstanden werden, hat man sie mit Müll gefüllt:
Laut N. W. Titow, erreichte der Vandalismus seinen Höhepunkt in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die einheimische Bevölkerung aus unerklärlichen Gründen durch Gerüchte über eine mögliche Rückkehr der einst vertriebenen Deutschen an die Wolga aufgeschreckt wurde. Es ist schwer nachzuvollziehen, wen die Verstorbenen in irgendeiner Weise gestört haben konnten, aber alles wurde verwüstet, und bis heute denkt niemand daran, die Gräber wiederherzustellen oder auch nur den Müll zu beseitigen.
Damit verabschiedeten wir uns von der Heimat unserer Vorfahren und kehrten nach Saratow zurück, von wo wir spätabends mit dem Zug nach Moskau weiter fuhren. In Moskau erstatteten wir meiner Tante Bericht über unsere geleistete Arbeit und zeigten ihr, was wir aufgenommen hatten. Obwohl unsere Expedition nur kurz gewesen war, hatten wir so viel erreicht und gesehen, dass die Eindrücke uns allen noch für eine lange Zeit reichen sollten. Kurze Berichte sandten wir auch an Vera Beljakova und Jürgen Stahf.
Uhr aus der Saratower Wohnung von Eduard und Nina Rauschenbach, die sich heute in der Moskauer Wohnung von Tante Tanja befindet
Im Jahre 2008 schien es uns, dass es in der deutschen Wolgaregion für uns nichts mehr zu suchen gab. Wenn wir eines Tages dorthin zurückkehren sollten, dann nur wegen unserer Kinder, damit auch sie einmal die Heimat ihrer Vorfahren besuchen konnten. Aber es vergingen einige Jahre…
Georg Rauschenbach
Moskau, 27.08.2013
(Fortsetzung folgt)