Karl Friedrich Rauschenbach und seine Nachkommen in Russland

 

Genealogitscheskij westnik

Nr. 42/2011. - S. 43-61.

 

Georg Rauschenbach

 

Karl Friedrich Rauschenbach und seine Nachkommen in Russland

 

Im Andenken an meinen Vater

 

Die Umstände der Auswanderung von Zehntausenden von deutschen Staatsbürgern nach Russland zum Zwecke der Kolonisierung der Wolga-Gebiete in den Jahren 1764-1767 sind hinreichend bekannt. Wer sich genauer über die Einzelheiten dieser in der Geschichte Russlands und Deutschlands einzigartigen Ereignisse informieren möchte, kann dies in den Werken deutscher und russischer Forscher tun [1-3]. In den mehr als zwei Jahrhunderten, die seitdem vergangen sind, mussten die deutschen Kolonisten viele dramatische Ereignisse durchmachen, die dazu führten, dass bei den meisten von ihnen die Erinnerung an ihre Familiengeschichte verblasst ist. Der vorliegende Artikel rekonstruiert die Geschichte einer von ungefähr 8000 Familien, die vor 245 Jahren in Russland eine neue Heimat fanden. Interessant ist aber auch die Geschichte der Rekonstruktion selbst, denn sie gibt ein anschauliches Beispiel dafür, wie anhand der Familienüberlieferung ein genealogischer Stammbaum rekonstruiert werden kann.

Anstelle eines Vorworts: Wie alles begann

Im Juli 1958 machten mein Vater und ich uns auf zur Krim. Wir fuhren mit unserem „Moskwitsch“ und waren etwa einen Monat auf Reisen. Als wir am 20. August nach Moskau zurückkehrten, stellten wir fest, dass unser ganzer Briefkasten mit Briefen aus dem Ausland vollgestopft war. Ich, ein 13jähriger Junge, hatte Briefe von ganz und gar erwachsenen Männern aus der DDR, der BRD, aus Westberlin, ja sogar aus Israel erhalten. Die Sache ist die: Im Januar hatte mein Vater für mich die Zeitschrift „Sammler-Express“ abonniert, in der neben allgemeinen Artikeln zu den Themen Philatelie und Münzkunde auch kurze Anzeigen von Privatpersonen abgedruckt waren, die Interesse am Briefmarkentausch usw. hatten. Mein Vater hatte mir geholfen, einen Brief an die Redaktion zu schreiben, damit auch meine Anzeige dort veröffentlicht würde, und nun hatte ich Dutzende von Briefen, und zwar nicht nur von Philatelisten, erhalten.

So fragte mich z.B. ein Mann aus West-Berlin, ob ich nicht zufällig ein Verwandter von Hugo Rauschenbach sei, der im Jahre 1942 spurlos an der Ostfront verschollen sei. Es waren auch andere Briefe darunter, die nichts mit Briefmarken zu tun hatten. Der interessanteste dieser Briefe kam von einer gewissen Frau Blankennagel. Daraufhin entwickelte sich ein Briefwechsel zwischen ihr und meinem Vater.

Wie sich herausstellte, war sie eine geborene Rauschenbach. Sie lebte in irgendeiner kleinen Stadt in der DDR. Eines ihrer Kinder war auf meine Anzeige aufmerksam geworden. Als sie uns ein altes, etwa um die Jahrhundertwende entstandenes Foto ihres Vaters schickte, waren wir über die Ähnlichkeit zwischen ihm und meinem Großvater Eduard verblüfft. Gemäß Frau Blankennagels Familienüberlieferung war einer ihrer Angehörigen einst nach Russland ausgewandert. Zum damaligen Zeitpunkt war es nicht möglich, dieser Information weiter nachzugehen. Heute sind ihre Briefe leider nicht erhalten geblieben und auch sonst sind keinerlei Spuren von ihr bekannt. Anfang der 60er Jahre schickte mein Vater einen weiteren Brief an Frau Blankennagel, der jedoch zurück kam. Der Umschlag trug einen Bleistiftvermerk in deutscher Sprache, der sinngemäß lautete: „Heimlich und ohne Angabe des Wohnorts verzogen“. Da wir weiter keine Briefe mehr von ihr erhielten, nahmen wir an, dass es ihr gelungen war, zusammen ihren Kindern illegal nach West-Deutschland überzusiedeln, woraufhin sie den Kontakt zu uns abgebrochen  haben  musste, wohl wissend, dass ein Briefwechsel mit flüchtigen Ostdeutschen für Sowjetbürger gefährlich war.

Einer ihrer Bekannten war Archivar, und dieser half meinem Vater, Kontakt zu Doktor Kurt Wensch [4], einem bedeutenden deutschen Experten auf dem Gebiet der Genealogie, herzustellen. Dank seiner Hilfe kamen wir im Frühjahr 1960 in den Besitz einer offiziellen Urkunde über die Eheschließung zwischen einem gewissen Carl Friederich Rauschenbach und Sophie Friederique Grune, die am 26. Juni 1766 in Roßlau vollzogen worden war. Da der Name Rauschenbach unter Russlanddeutschen äußerst selten vorkam, konnten wir davon ausgehen, dass es sich bei diesem Aussiedler um unseren direkten Vorfahren handeln musste. Diese Vermutung erwies sich als richtig, auch wenn noch weitere 40 Jahre bis zu ihrer endgültigen Bestätigung vergehen sollten.

In den 1960er bis 1980er Jahren stand mein Vater mit vielen Menschen im „genealogischen“ Briefwechsel. Es sind zwei Arbeiten meines Vaters erhalten geblieben, in denen er den Versuch unternahm, unsere Familiengeschichte anhand der Erinnerungen seines Vaters Eduard und anderer Verwandter niederzuschreiben und mit den Ergebnissen seiner eigenen genealogischen Nachforschungen zu ergänzen. Die erste und umfangreichste dieser Arbeiten wollen wir „Aufzeichnungen“ nennen. Es handelt sich dabei um einen 28-seitigen handschriftlichen Text, der größtenteils im Juli 1983 verfasst worden ist. Zitate aus den „Aufzeichnungen“ sind kursiv hervorgehoben, meine eigenen Ergänzungen dazu sind in normaler Schrift gegeben. Die zweite Arbeit ist ein Artikel mit dem Titel „Die Rauschenbachs“, der am 23. Mai 1990 in der Zeitung „sowjetischer“ Deutscher „Neues Leben“ veröffentlicht wurde [5].

Die wichtigsten Ereignisse aus der Geschichte der ersten Generation unserer Familie sind darin wie folgt dargelegt:

Laut Familienüberlieferung war unser Vorfahre Stallbursche beim Baron Beauregard (einem der wichtigsten Organisatoren der Kolonistenanwerbungen). Im Juli 1767 kam der erste Kolonistentrupp des Barons Beauregard an der Wolga an und gründete eine Reihe von Kolonien, die entweder nach dem jeweiligen Kolonistenführer (Baronsk, Kano, Boregard, Niedermonjou, Obermonjou) oder nach der Zarin bzw. einem ihrer Günstlinge benannt wurden (Orlowskaja, 12km nördlich von Baronsk an der Wolga, an der Mündung des Flusses Malyj Karaman; zu den Gründern und Bewohnern dieser Kolonie gehörten auch unser Vorfahre und seine Frau). Der Sohn des Einwanderers Karl (unseres direkten Ahnen) arbeitete in der Windmühle von Orlowskaja. Nachdem er die Tochter des Mühlenbesitzers geheiratet hatte, wurde er selbst zum Eigentümer dieser Mühle. Sein Sohn, der Enkel des Einwanderers (leider ist mir sein Name nicht bekannt), zog nach Baronsk (Katharinenstadt, Marxstadt, heute Marx), wurde ein Mitglied der dortigen Gemeinde, erhielt ein Stück Land zugewiesen, wurde Landwirt und verdingte sich nebenbei als Kleinhändler. Über das Schicksal der Mühle ist nichts bekannt. Der Name seiner Frau ist mir ebenfalls unbekannt… Die Angehörigen der ersten (oder zweiten?) Generation unserer Familie in Russland (es waren mindestens zwei Brüder) verließen ihre Stammkolonie Orlowskaja und zogen nach Baronsk an der Wolga, das näher an der wichtigsten Handelsstraße lag. Dies geschah in den ersten beiden Jahrzehnten des 19 Jahrhunderts. Das Einzige, was mein Vater mit Sicherheit wusste, war der Name seines Urgroßvaters: Johann.

Im Jahre 1998 machte ich Bekanntschaft mit Vera Beljakova-Miller [6], die aus Johannesburg nach Moskau gekommen war, um sich mit dem Akademiker B. W. Rauschenbach zu treffen. Boris Wiktorowitsch vermittelte Vera an mich weiter, da er selbst schon sehr krank war zum damaligen Zeitpunkt und ohnehin alle genealogischen Informationen, die er besaß, von meinem Vater und mir erhalten hatte. Veras Enthusiasmus bei der Suche nach Verbindungen zwischen den Millers und den Rauschenbachs übertrug sich auch auf mich und so begann ich, mich mit Genealogen auszutauschen.

Am wichtigsten war natürlich, Informationen über die ersten Generationen der in Russland lebenden Rauschenbachs aufzutreiben. Die „Aufzeichnungen“ waren hierbei keine große Hilfe, denn nicht einmal die Anzahl der Generationen vor meinem Urgroßvater Johann war exakt bekannt. Vergeblich bemühte ich mich, anhand der „Aufzeichnungen“ Spuren unserer Vorfahren in der Kolonie Orlowskaja ausfindig zu machen. Wie sich im Nachhinein herausstellte, entsprach die Familienüberlieferung in diesem Punkt (wie auch in vielen weiteren) eher eine Legende. Dank der Informationen, die wir auf der Webseite der „AHSGR – Amerikanische historische Gesellschaft der Deutschen aus Russland“ fanden, wussten Vera und ich bereits seit Anfang 1999, dass im Jahre 1798 ein gewisser Gottfried Rauschenbach, 29 Jahre, in Katharinenstadt gelebt hat, der im Jahre 1792 aus der Kolonie Niedermonjou dorthin gezogen war. Er heiratete die Witwe Christine Miller (=Müller; geborene Wasmuth), mit der er einen 6-jährigen Sohn namens Johann Jakob hatte. Laut den Aufzeichnungen von Veras Großvater B. K. Miller [7] waren Gottfried und Jakob dessen Vorfahren. In welcher Beziehung diese beiden Männer aber zu den übrigen meinem Vater bekannten Rauschenbachs – angefangen bei Karl Friedrich – stehen, konnte nur vermutet werden. Die Sachlage klärte sich im Frühjahr 2000 dank der Hilfe des namhaften Genealogen S. D. Kotelnikov. Wir erhielten erste Dokumente aus dem Staatsarchiv des Saratower Gebiets (ГАСО), anhand derer wir die Kette „Gottfried-Jakob“ um ein weiteres Glied verlängern konnten [8]. Es stellte sich heraus, dass Jakob im Jahre 1834 bereits sechs Kinder hatte, darunter den 11-jährigen Sohn Johann. Dieser Johann hätte mein Ururgroßvater sein können. Doch wer war Gottfried und welche Rolle spielte dabei Niedermonjou, das in der Familienüberlieferung keinerlei Erwähnung fand?

Der Durchbruch kam im August 2000. S. D. Kotelnikov war es gelungen, von der Engels Zweigstelle des Staatsarchivs Saratower Gebiet einen Auszug aus den Listen der Einwanderer von Niedermonjou (oder Untermonjou) zu erhalten [9]. Es stellte sich heraus, dass Karl Rauschenbach in dieser Kolonie angekommen war, und nicht in der Kolonie Orlowskaja, wo wir ihn vergeblich gesucht hatten. Zu diesem Zeitpunkt besaß ich bereits das im Jahre 1999 in den USA herausgegebene zweibändige Buch „1798 Census of the German Colonies along the Volga” und wusste daher, dass es im Jahre 1798 außer Gottfried und seinem Sohn Jakob keine weiteren Rauschenbachs in den Kolonien gegeben hat. E. M. Erina, die Direktorin der Engels Zweigstelle des Staatsarchivs Saratower Gebiet, verfolgte zusammen mit ihren Mitarbeitern die Geschichte der Rauschenbachs bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück, indem sie sich auf die Daten der Revisionen von 1850 und 1857, auf kirchliche Geburts-, Tauf- und Sterbeurkunden sowie auf Familienlisten von 1873-99 stützte. Bald darauf erhielten wir Kopien dieser Dokumente, und so konnte zum Ende des Jahres 2000 ein Stammbaum der Rauschenbachs, von Karl Friedrich bis zu meinem Vater, rekonstruiert werden. Die seitlichen Zweige dieses Baums, die von der kinderreichen Familie Johann Jakobs ausgingen, wurden über seine Söhne zurückverfolgt. Auf diese Weise stießen wir auf die Linien von Vera Beljakova-Miller und des Akademikers B. W. Rauschenbach, dessen Großvater sich als Bruder meines Ururgroßvaters Johann erwies. Diese Nachricht konnte ich Boris Wiktorowitsch einige Monate vor seiner letzten Krankheit noch mitteilen. In dem Buch „Müßige Gedanken“ [10], das nach seinem Tode veröffentlicht wurde, ist diese Information leider nicht enthalten, es finden sich darin lediglich einige nachgedruckte Seiten der „Aufzeichnungen“, die er zuvor von mir erhalten hatte.

            Heute stehen uns viele Möglichkeiten zur Verfügung, die mein Vater nicht hatte. Man kann sich in Archiven und im Internet auf die Suche begeben, genealogische Nachforschungen in Auftrag geben, benötigte Bücher im Ausland bestellen. Man hat die Möglichkeit, entfernte Verwandte im Ausland ausfindig zu machen und sich mit ihnen zu treffen. Dank all dieser Möglichkeiten konnte ich die Informationen, die mein Vater hinterlassen hat, überprüfen, berichtigen, konkretisieren und ergänzen. Die meisten Dokumente stammen aus dem Staatsarchiv des Saratower Gebiets und dem staatlichen historischen Archiv der Wolgadeutschen in Engels  (ГИАНП, frühere Zweigstelle ГАСО). Vieles fand ich im Russischen Staatlichen Militärarchiv (РГВИА), Einiges in den Archiven des НКВД-МВД (Innenministerium). Neben Archivunterlagen fanden auch online verfügbare Datenbanken, Monographien, Dokumente und Informationen aus meiner Privatkorrespondenz mit entfernten Verwandten Verwendung. Große Hilfe leisteten S. D. Kotelnikov, E. M. Erina, Vera Beljakova-Miller, M. J. Katin-Jarzev, Jürgen Stahf, Andrew Spencer, Jutta Kalberlah und viele andere Fachleute und Genealogie-Begeisterte.

Die Ahnensuche begann vor mehr als einem halben Jahrhundert und ich glaube nicht, dass diese Arbeit so bald als abgeschlossen betrachtet werden kann. Dennoch müssen wir zumindest mal eine Verschnaufpause einlegen und versuchen, das gesammelte Material zusammenzufassen. Nun denn:

DIE GESCHICHTE UNSERER FAMILIE IN RUSSLAND,

Version vom September 2011

1. Karl Friedrich Rauschenbach (ca. 1742 - ?). Über ihn ist so gut wie nichts bekannt. Am 26.06.1766 (nach dem Gregorianischen Kalender) tritt er als Neuvermählter zum ersten Mal in unser Blickfeld. In dem bekannten Buch von K. Stumpp wird er in der gleichen Eigenschaft als Neuvermählter einmal erwähnt [11]. Wir wissen, dass seine Ehefrau Sofia Frederika Grune hieß.

Über Sofia ist ebenso wenig bekannt wie über ihren Ehegatten. Mein Vater vermutete in ihr eine Verwandte von Heinrich (Christoph?) Grune, einem Vater von sechs Kindern, Tagelöhner und Entenhirten, der von Almosengaben der Gemeinde Kleutsch lebte. Letzterer wird in dem Buch von K. Stumpp [12], in den „Schiffslisten von I. Kuhlberg“ [13], in den „Oranienbaum-Listen“ [14] der 1767 in Saratow angekommenen Aussiedler sowie in einer Auskunft des Staatsarchivs Magdeburg, die mein Vater 1988 erhielt, erwähnt. Ich möchte betonen, dass bis auf den identischen Familiennamen keine weiteren Anhaltungspunkte existieren, die eine Verwandtschaft zwischen Sofia Frederika und dem erwähnten Vater der Familie Grune belegen würden.

Weder der Name Karls noch der seiner Ehefrau Sofia finden sich in den Listen der Kolonisten, die im Jahre 1766 mit dem Schiff von Lübeck nach Russland aufbrachen („Schiffslisten von I. Kuhlberg“). Der Grund ist nicht bekannt. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass sie im Jahre 1767 in Saratow ankamen, wie die „Oranienbaum-Listen“ bezeugen [15]. Die vierte und letzte Erwähnung Karl Rauschenbachs finden wir in den Listen der Erstbesiedler der Kolonie Niedermonjou [16], wo er am 03.08.1767 eintraf (falls nicht anders vermerkt, sind im Weiteren alle Daten, bis zum Jahre 1918, nach dem Julianischen Kalender angegeben). Folgende weitere Angaben sind genannt: Alter: 25 Jahre; Konfession: evangelisch-lutherisch; Stand: „Kaufmann“; kommt aus: „Leipzig“. Der Name seiner Frau: Johanna, 27 Jahre. Die Vormundschaftskanzlei für Ausländer in Saratow ließ dem Ehepaar durch den Major von Monjou 2 Pferde und 1 Kuh zuteilen. Es wird erwähnt, dass seine Wirtschaft im Jahre 1768 ein Pferd weniger besaß. Daraus folgern wir indirekt, dass er im Jahre 1768 noch am Leben war. Eine weitere Bestätigung dieser Annahme liefert das Geburtsdatum seines Sohnes Gottfried (14. Juni 1769), auf den weiter unten noch ausführlicher eingegangen wird.

Warum der Name von Karls Frau in den Listen der Einwander von Niedermonjou mit Johanna angegeben wird, bleibt ein Rätsel. Ob es sich lediglich um einen Fehler des russischen Schreibers, oder um einen von Sofia Frederikas weiteren Taufnamen handelt, ist unklar. Man könnte vermuten, dass Sofia die Strapazen der Reise nicht überstanden und der verwitwete Karl ein zweites Mal geheiratet hat, doch laut den „Oranienbaum-Listen“ kam Sofia Rauschenbach zusammen mit ihrem Mann in Saratow an, vermutlich kurz vor ihrer Ansiedlung in Niedermonjou.

Das ist, nach unseren derzeitigen Erkenntnissen, auch schon alles, was wir über die ersten Eheleute Rauschenbach wissen, die zu Staatsangehörigen des Russischen Reiches wurden. Es ist nicht bekannt, wann, wo und unter welchen Umständen sie starben, wie viele Kinder sie hatten usw. In der nächsten Quelle, die uns zur Verfügung steht, den Revisionsdokumenten von 1798, tauchen sie nicht auf. Folglich müssen sie in einem ganz und gar nicht hohen Alter aus dem Leben geschieden sein. Soweit bekannt, ließen sich Pugatschows Truppen in Niedermonjou nicht blicken, als Opfer der Kirgisen-Überfälle wird diese Kolonie ebenfalls nicht erwähnt. Mann kann also hoffen, dass sie einen friedlichen Tod starben.

1.1. Johann Gottfried Rauschenbach (14.06.1769-12.01.1843) wird erstmals in der Revision von 1798 erwähnt [17]. Wir wissen, dass er im Jahre 1792 von Niedermonjou nach Katharinenstadt übersiedelte [18] und dort die 9 Jahre ältere Christine, geb. Wasmuth, heiratete, die nach ihrem verstorbenen ersten Mann Miller (=Müller) hieß. Vergleichen wir diese Fakten mit den Angaben der Familienüberlieferung (siehe oben) und vergessen wir dabei nicht, dass der deutsche Name Müller auf den Beruf des Müllers hinweist. Der Umzug nach Katharinenstadt erfolgte eine Generation zuvor; der Name Karl gehörte dem ersten Siedler, und nicht dessen Sohn.

            Im Jahre 1792 wurde ihnen der Sohn Johann Jakob geboren. Zur Familie gehörten auch zwei Töchter aus Christines erster Ehe: Elisabetha (11 Jahre) und Maria Katherina (9 Jahre). Aus der Liste der Einwanderer [19] geht hervor, dass Sofia Christina Wasmuth am 07.06.1767 im Alter von 6 Jahren in Katharinenstadt eintraf. Ihr Vater war Christian Friedrich Wasmut, 36 Jahre, Fleischer aus dem sächsischen Petersfeld; ihre Mutter war Sofia Elisabetha, 32 Jahre. Ihr jüngerer Bruder Andreas war damals 1 Jahr alt.

Johann Gottfrieds genaues Geburtsdatum sowie sein vollständiger Name ist uns in den Aufzeichnungen von seinem Tod, der ihn am 12. Januar 1843 um 11 Uhr morgens ereilte, überliefert worden. Er wurde 73 Jahre, 6 Monate und 28 Tage alt [20] (ich bezweifle, dass die Anzahl der Schaltjahre während seines Lebens mit einberechnet wurde). Sofia Christina verstarb am 02.11.1839 im Alter von 78 Jahren [21]. Streng genommen, haben wir keine direkten dokumentarischen Beweise dafür, dass Gottfried Karls Sohn war. Allerdings gab es weder in Niedermonjou noch in anderen Kolonien weitere Rauschenbachs, ja es gab überhaupt keine anderen Rauschenbachs unter den damaligen Einwanderern aus Deutschland. Laut den Aufzeichnungen von B. K. Miller gehörte er der evangelisch-reformierten Konfession an, obwohl seine Eltern Lutheraner waren. Allem Anschein nach wurde er von dem lutherischen Pastor Ludwig Balthasar Wernborner getauft, der im Jahre 1776 von den Kirgisen den Märtyrertod empfing [22]. Alle Söhne Gottfrieds wurden ebenfalls als evangelisch-reformiert in die Kirchenbücher eingetragen, obwohl deren Frauen in der Regel der lutherischen Konfession angehörten.

B. K. Miller nahm an, dass Johann Gottfried Landwirt war, während sein Sohn Johann Jakob die Landwirtschaft mit dem Kaufmännischen kombinierte. Die Revision von 1798 ergab, dass zu seinem Hof 5 Pferde, 4 Kühe, 12 Schafe, 2 Schweine und 10 Hühner gehörten; die Ernte von 1797 brachte einen Ertrag von 12 Vierteln (1 Viertel = 209,9 Liter) Weizen, 5 Vierteln Hafer, 2 Vierteln Kartoffeln, 120 Pfund Tabak [23] – ein durchschnittliches Ergebnis für einen katharinenstädter Kolonisten, aber es ist klar, dass seine fünfköpfige Familie nicht unter Armut zu leiden hatte.

Wir haben keine Informationen darüber, ob Gottfried und seine Frau noch andere Kinder außer Johann Jakob hatten. Zur Zeit seines Todes hatte er sechs Enkel und zwei Enkelinnen; sie alle sollten es später zu etwas bringen, nur Enkel Justus starb mit 23 Jahren, ohne eine Familie und eine eigene Wirtschaft gegründet zu haben. In der Mitte des 19. Jahrhunderts spricht man von den Rauschenbachs als von hinreichend bekannten und vermögenden Kolonisten, einige ihrer Nachkommen werden gar zu Ehrenbürgern ernannt [24].

1.1.1. Johann Jakob Rauschenbach (13.06.1792–19.04.1853) wurde bereits als Kaufmann erwähnt, und als solcher wird er auch in kirchlichen Taufbüchern gelistet. Er war mit Maria Sofia Lotz (1802–1882?) verheiratet. Laut Überlieferung war er Getreidehändler. In einer Episode aus der Familienchronik, die in den „Aufzeichnungen“ der dritten Generation zugeschrieben wird, ist offenbar von ihm die Rede: Starb im mittleren Alter, nachdem er beim Reiten mit dem Kopf gegen einen Querbalken des Tores schlug. Zwar wird in dem Totenbuch [25] eine andere Todesursache genannt (Schwindsucht), doch es sieht so aus, als seien die Diagnosen völlig willkürlich gestellt worden. Ein Schwindsüchtiger wäre sicherlich zu Hause dahingeschieden, hier aber wird das etwa 25km von Katharinenstadt entfernte Dorf Lipov-Kut (Urbach) als Todesort genannt.

Jakobs Frau stammt mit ziemlicher Sicherheit von der katharinenstädter Familie Lotz ab. Das Oberhaupt dieser Familie, August Justus Lotz (ca. 1750–18??), Sohn des Gerbers August Lotz (etwa 1724–1798), eines Emigranten aus Weisheim-Zweibrück [26], beglich um das Jahr 1798 seine Schulden beim Fiskus, erneuerte seinen Pass und gründete eine Lederfabrik, in der Felle von Saiga-Antilopen, wilden Ziegen und Hasen verarbeitet wurden [27]. Wir sagen mit „ziemlicher Sicherheit“, weil wir die Geburtsbücher für die Jahrgänge 1802-1803 nicht auftreiben konnten. Maria Sofias Vater war aller Wahrscheinlichkeit nach der älteste Sohn des Fabrikbesitzers Justus (06.01.1778–22.02.1837), ihre Mutter war Maria Dorothea, geb. Schmidt (05.1783–17.04.1863).

Eine gewisse Vorstellung vom Kreise ihrer Bekannten geben uns die Einträge in den Geburts-/Taufbüchern, in denen die Taufpaten ihrer Kinder und Enkel aufgelistet sind. Genannt werden die Familien Feidel, Kreilich, Wogau, Schuhmacher, Meinhardt, Staff, Seifert, Miller (=Müller), Liebig (Liebich?), Wormsbecher, Nordström, Weiß, Belz und natürlich ihre angeheirateten Verwandten Lotz und Rauschenbach.

Nach Johann Jakob wächst die Zahl der Rauschenbachs rasant an. An dieser Stelle müssen wir uns mit einer kurzen Liste seiner Nachkommen begnügen. Paradoxerweise ist es oftmals schwieriger, dem Schicksal eines Menschen nachzuspüren, der Ende des 19. und erst recht im 20. Jahrhundert gelebt hat, was sowohl mit dem Übergang von kirchlichen Taufbüchern zur zivilen Registrierung als auch mit den Unruhen der Kriegs- und (Nach-)Revolutionsjahre zusammenhängt.

1.1.1.1. Johann Ludwig Rauschenbach (26.09.1823–08.02.1854) [28]. Mein Vorfahre, von dem ich weiter unten ausführlicher berichte. Hatte 4 Kinder.

1.1.1.2. Justus Justus Rauschenbach (07.1827–07.06.1851) [29]. Starb unverheiratet.

1.1.1.3. Johann Karl Rauschenbach (12.07.1829–12.03.1906) [30]. Hatte 7 Kinder, darunter den Sohn Friedrich Karlowitsch, ein bekannter Saratower Arzt im Range eines Hofrats und Abgeordneter der städtischen Duma [31]. B. K. Millers Großvater.

1.1.1.4. Johann Friedrich Rauschenbach (13.08.1833- ?) [32]. Bekannt sind 8 Kinder.

1.1.1.5. Andreas Jakob Rauschenbach* (30.10.1836 - 1915) [33]. Bekannt sind 3 Kinder aus erster und 7 Kinder aus zweiter Ehe. Großvater des Akademikers B. W. Rauschenbach.

* Wir besitzen eine Kopie des Geburts- und Taufbuches vom Oktober 1836 aus dem Bestand des staatlichen historischen Archivs der Wolgadeutschen (№ 33 in der Bibliographie), in dem das Neugeborene als Andreas Jakob eingetragen ist. In den Revisionsdokumenten von 1857 (№ 40 in der Bibliographie) wird Andreas Jakob in Johann Jakob umbenannt, doch es gibt allen Grund zur Annahme, dass der Fehler nicht dem Pastor, der das Neugeborene im Jahre 1836 getauft und ihm den Namen gegeben hat, unterlaufen ist, sondern dem Staatsbediensteten, der die Volkszählungstabellen ausgefüllt hat. Solche Fehler gibt es dort viele.

1.1.1.6. Johann Heinrich Rauschenbach (13.01.1839 - ?) [34]. Bekannt sind 12 Kinder. Sein Enkel, Boris Oskarowitsch Rauschenbach, der im Juli 1941 den Heldentod starb, war ein talentierter Pflanzenzüchter;  er züchtete die Walnuss-Sorte „Rauschenbach“.

1.1.1.7. Anna Elisabetha Rauschenbach, nach der Eheschließung Liebig (1821 -?) [35]. Bekannt sind 3 Kinder.

1.1.1.8. Maria Dorothea Rauschenbach (1825 -?) [7]. Mir sind keine Informationen verfügbar.

Somit zählte die fünfte Generation bereits über 40 Rauschenbachs. Die Nachkommen der fünf Söhne Johann Jakob Rauschenbachs wollen wir im Weiteren als „Johannowitschs“, „Karlowitschs“, „Friedrichowitschs“, „Jakowlewitschs“ und „Heinrichowitschs“ bezeichnen. Im Folgenden sind die wichtigsten Informationen über den Zweig der „Johannowitschs“ aufgeführt.

Johann Ludwig Rauschenbach (26.09.1823–08.02.1854) heiratete Christine Maria Miller (Müller) (geb. 1826 – gest. zwischen 1873 und 1882). Christines Herkunft konnte bislang nicht geklärt werden. Alles, was wir wissen, ist, dass ihr Vater ein gewisser Karl Miller war.

Neben dem Ackerbau kaufte er Getreide an und fuhr Wagenladungen mit Handelswaren nach Moskau. Sprach gut Russisch. Starb im Alter von 35-37 Jahren an Fieber, nachdem er im März auf dem Rückweg aus Moskau in den Fluss gefallen war. Seine Frau hieß Christine Miller. Ihr Bruder, Fjodor (Friedrich?) Karlowitsch – verheiratet mit Amalia Wormsbecher, kinderlos, sehr vermögend (Getreide- und Landhändler) – lebte in dem Dorf Balakowo an der Wolga (ehemals Provinz Samara, 60km von Baronsk); er schlug seiner Schwester und ihrem einzigen Sohn, dem 12-jährigen Alexander, vor, zu ihm zu ziehen. Die Verbindung zu den Kolonien war nur schwach.

Aus dem Totenbuch wissen wir, dass Johann am 8. Februar 1854 im Alter von 30 Jahren starb (übliche Diagnose: „Schwindsucht“) [28]. Die Witwe blieb mit einem 7-jährigen Sohn und ihren – falls sie damals noch gelebt haben – drei Töchtern zurück: Amalia (1846 - ?) [36], Beate Luisa (29.10.1848 - ?) [37] und Katharina Dorothea (20.06.1850 - ?) [38]. Über diese Töchter wissen wir gar nichts, außer dass sie in der Revision von 1850 erwähnt werden. In den Totenbüchern der Jahre 51-54 sind sie nicht aufgeführt, die Katharinenstadt-Revision von 1857 nennt nur Christina Rauschenbach und ihren 10-jährigen Sohn Alexander [39]. Vielleicht wurden sie von Verwandten der Millers-Seite, die nicht in Katharinenstadt lebten, zu sich geholt?

Wie aus den „Aufzeichnungen“ hervorgeht, zog Christine mit dem kleinen Alexander 5 Jahre nach dem Tode ihres Mannes, etwa um das Jahr 1859, nach Balakowo. Der tragische Tod Johann Ludwigs, Jakobs ältesten Sohnes, war eine wahre Katastrophe für diesen Zweig der Rauschenbachs. Es bleibt zu vermuten, dass er aufgrund seines jungen Alters seiner Familie kein bedeutendes Vermögen hinterlassen haben konnte, so dass sich die Witwe mit ihren vier kleinen Kindern in einer äußerst traurigen Lage wiedergefunden hätte, wenn nicht die Hilfe der Verwandten gewesen wäre.

 

1.1.1.1.1. Johann Alexander Rauschenbach (19.05.1847 – ca. 1901). Vater – evangelisch-reformatorisch, Mutter – evangelisch-lutherisch. Getauft von Pastor Haag am 30. Mai; Taufpaten: Ludwig Meinhardt, Konstantin Staff, Heinrich Seifert, Adam Müller, Anna Elisabetha Liebig, Luisa Wormsbecher; Dorothea Müller [40]. – An dieser Stelle wird zum ersten Mal in der Geschichte unserer Familie ein gewisser Staff erwähnt. Ich wage die Vermutung, dass es sich dabei um Konstantin Konradowitsch Staff (13.05.1819 – gest. nach 1882), den Vater von Alexanders künftiger Ehefrau, handelt, denn dieser war – abgesehen von seinem eigenen Sohn (geb. 1845) – der einzige Konstantin unter den Staffs der damaligen Zeit [41].

 

Johann Alexander heiratete Anna Lydia Staff. Das Datum und der Ort der Heirat sind nicht bekannt. Ihr erstes Kind kam ca. 1870 zur Welt, demnach könnte die Heirat ein Jahr zuvor stattgefunden haben. Im Jahre 1869 wurde Lydia 18 Jahre alt – ein für die damalige Zeit übliches Heiratsalter.

An dieser Stelle muss ich einen kurzen Abstecher machen und von der Familie Staff, der Lydia Konstantinowna angehörte, berichten. Gemeinsam mit meinem entfernten Verwandten Jürgen Stahf, einem bekannten Journalisten und Kino- und Fernsehdokumentaristen [42], machten wir uns mit vereinten Kräften auf die Suche nach unseren Vorfahren und konnten dabei Folgendes in Erfahrung bringen: Die ersten Erwähnungen dieser Familie in Deutschland gehen auf den Anfang des 17. Jahrhunderts zurück. Die ersten Wolga-Siedler waren Johann Peter Staff (06.12.1739 – ca. 1770), seine Frau Eva Maria, geb. Schmidt (26.09.1740-179?) und ihr Sohn Johann Nikolaus (ca. 1765-?). Sie kamen aus dem hessischen Wallroth und ließen sich am 7.07.1767 in der Kolonie Boregard nieder [43]. Johann Nikolaus heiratete Elisabetha Lier, etwa 1793 kam der Sohn Konrad (gest. 1858) und am 25.04.1796 der Sohn Johann Michael (gest. 1858) zur Welt [44]. Ich und meine Familie sind die Nachkommen Konrads, während Jürgen der Nachkomme Michael Staffs ist [45]. Konrad hatte 6 Söhne [46], von denen der älteste Konstantin (13.05.1819-188?) hieß. Konstantin war verheiratet mit Johanna Miller (ca. 1824-1892) [47] und war der Vater von Lydia.

Die Lebensumstände von Johann Alexander Rauschenbach sind uns, den „Aufzeichnungen“ sei Dank, bekannt: Vermutlich bei seinem Onkel Fjodor (Fjodor Karlowitsch Miller) lernte er das Handwerk des Getreidehandels und –transports zu den Seehäfen, denn bereits in frühen Jahren hatte er begonnen, als Getreideankäufer für den Kaufmann und Millionär Zvorykin zu arbeiten… Mein Großvater war ein phlegmatischer, diensteifriger, pflichtbewusster und kränklicher (er starb mit 54 Jahren) Mann, über dessen Ehrlichkeit Legenden kursierten. Zvorykin selbst vertraute ihm Hunderttausende von Rubeln ohne jegliche Quittungen an und schenkte ihm für seine treuen Dienste ein großes Haus samt Garten in Balakowo, das der gesamten Großfamilie meines Großvaters – Eltern, Mutter und 12 Kinder – Platz bot…. Mein Großvater heiratete seine Cousine zweiten Grades Lydia Staff, die einer wohlhabenden Bauernfamilie aus der Kolonie Boregard entstammte.

Die häufige Namensgleichheit Miller (Müller) bei vielen Personen meines Stammbaums könnte eine Verwandtschaft zwischen ihnen vermuten lassen, doch hier kann man sich leicht täuschen. Bei der Revision von 1798 wurden in den Kolonien mehr als 200 Familien gezählt, die diesen glorreichen Namen trugen. Der Hinweis auf die Verwandtschaft dritten Grades zwischen Johann Alexander Rauschenbach und seiner Frau lässt jedoch annehmen, dass die Mütter von Lydia und Alexander Cousinen waren. Wir möchten auch darauf hinweisen, dass die Staffs um die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits aus Beauregard nach Katharinenstadt umgezogen waren.

Bevor Fjodor Karlowitsch Miller, der Bruder der Mutter meines Großvaters, starb, teile er sein Vermögen zwischen seiner Schwester und seiner Frau auf. Erstere erhielt 3000 Desjatin Steppenland, was für eine vielköpfige, in ihren Mitteln eingeschränkte Familie ein beispielloses Vermögen darstellte (als mein Vater z.B. aufs Gymnasium in Kasan ging, bekam er nur 1 Rubel Taschengeld im Monat). Aufgrund des schlechten gesundheitlichen Zustands meines Großvaters waren mein Vater (Eduard) und sein älterer Bruder (Nikolai) gezwungen, das Gymnasium in Kasan zu verlassen, um sich dem väterlichen Gut zu widmen (Eduard ging von August 1888 bis Mai 1890 in die 5. und 6. Klasse des 3. Kasaner Gymnasiums [48]). Aus eigenem Bemühen, wobei sich hier besonders Eduard hervortat, errichteten die Brüder auf einem Stück Neuland ein großes Bauerngut mit allen Dienstleistungen, pflanzten einen Garten und gruben einen Teich.

Nikolai verließ das Gymnasium im Jahre 1889 [49], Eduard im Jahre 1890. Hieraus ergibt sich der vermutliche Zeitpunkt des Todes von F. K. Miller und des Beginns der Erschließung des Neulands: 1890.

Nach dem Tode meines Großvaters, als die Familie bereits im eigenen Haus in Saratow lebte, verlangten die Brüder und Schwestern gegen den Willen meines Vaters, dass das Gut, das mein Vater so sehr geliebt und in das er so viel Mühe investiert hatte, verkauft würde.

Zu Lebzeiten Alexander Johannowitschs wechselten unsere Vorfahren zweimal den Wohnort. Wie oben erwähnt, zogen etwa im Jahre 1859 zunächst Alexander und seine Mutter aus Katharinenstadt nach Balakowo. Danach zog Alexanders Familie aus Balakowo nach Saratow. Die Taufbücher der lutherischen St. Marien-Kirche in Saratow (Jahrgänge 1867 – 1879) enthalten Vermerke über die Taufen von Woldemar (1874) [50] und Eleonore (1877) [51], während ein Eintrag über die Taufe von Eduard (1873) fehlt. Darf man daraus folgern, dass die Familie in den Jahren 1873-74 nach Saratow umgezogen ist? Auf jeden Fall können wir davon ausgehen, dass die Familie zu diesem Zeitpunkt sowohl das Haus in Balakowo, das Alexander geschenkt bekommen hatte, als auch das Haus in Saratow besaß. Aus der notariellen Unterschrift auf der Kopie der Bescheinigung, dass Eduard Rauschenbach sechs Klassen am Kasaner Gymnasium absolviert hat [48], geht hervor, dass Alexander Johannowitsch im Oktober 1893 „in Saratow im Hause seiner Frau“ gelebt hat. Ob er es war, der die Mitgift für Lydia Konstantinowna zusammengestellt hat, oder ob Lydia das Haus geerbt hat, ist nicht bekannt. Lydia Konstantinowna Rauschenbach (geb. 1851) überlebte ihren Mann um ein Vierteljahrhundert und verstarb am 20.11.1926 [52].

Ihre Kinder (sechste Generation):

1.1.1.1.1.1. Olga Rauschenbach, in der Ehe Kalert (1870-194?).

1.1.1.1.1.2. Nikolai (Nikolaus) Rauschenbach ( 03.11.1871 – ca. 1939).

1.1.1.1.1.3. Eduard Rauschenbach (08.01.1873-15.12.1937), mein Großvater.

1.1.1.1.1.4. Wladimir (Woldemar) Rauschenbach (12.04.1874 – Okt.1921).

1.1.1.1.1.5. Eleonora Rauschenbach, in der Ehe Bauer (29.05.1877-05.07.1958).

1.1.1.1.1.6.  Matilda Rauschenbach, in der Ehe Hämmerling (28.06.1878-13.10.1947)

1.1.1.1.1.7. Alexander Rauschenbach (22.08.1879 – ca. 1914).

1.1.1.1.1.8. Pavel Rauschenbach (30.08.1880 – ca. 1960).

1.1.1.1.1.9. Michail Rauschenbach (20.09.1881 – ca. 1973).

1.1.1.1.1.10. Concordia Rauschenbach, in der Ehe Hämmerling (1882-1950)

1.1.1.1.1.11. Lydia Rauschenbach, in der Ehe Ernst (07.07.1884-1976)

1.1.1.1.1.12. Viktor Rauschenbach (10.03.1886-194?).

 

1.1.1.1.1.2. Eduard Alexandrowitsch Rauschenbach (08.01.1873-15.12.1937).

Nach der Auflösung des Bauernguts absolvierte er in Moskau Kurse in der Buchhaltung und begann daraufhin, als Buchhalter in einer Tabakfabrik in Saratow zu arbeiten, die seinem Cousin zweiten Grades, Kondrati Staff, gehörte. Aber sein Traum war immer die Landwirtschaft und darum kaufte er die Landanteile seiner Brüder in Baronsk, insgesamt 35-40 Desjatin, auf (keiner der Brüder hatte sich jemals als Landwirt betätigt, doch sie waren in der Gemeinde dieser Kolonie registriert und hatten darum ein Recht auf die Anteile). Er träumte davon, sich nach dem 1. Weltkrieg in der Steppe als Landwirt niederzulassen. Darüber hinaus besaß er 7 Desjatin Gartengrund am „Drei Schwestern“-Fluss in der Nähe der Stadt Kamyschin sowie Anteile an der Dampfmühle am Fluss Irgiz und an dem Haus an der Straßenkreuzung Proviantskaja/Konstantinowskaja in Saratow, in dem außer uns noch die Familien zweier seiner Brüder lebten; die übrigen 3 Wohnungen wurden vermietet, wobei in einer davon eine Singschule und in einer anderen eine Mädchenpension für Gymnasiastinnen aus anderen Städten untergebracht waren… Im Jahre 1905 wurde er als Freiwilliger zum Fähnrich ernannt und in die Garnison von Sarikamis (in der heutigen Türkei) entsandt.

Anhand von Unterlagen, die in den Beständen des Russischen Staatlichen Militärarchivs ausfindig gemacht werden konnten, lässt sich die militärische Periode in der Biographie von Eduard Alexandrowitsch in allgemeinen Zügen rekonstruieren. Im Jahre 1893 machte er als Absolvent von sechs Gymnasialklassen von seinem Recht Gebrauch und trat als Freiwilliger den Militärdienst an [53]. Ein Jahr später wurde er im Range eines Fähnrichs in die Reserve entlassen. Im November 1904 wurde er anlässlich des Ausbruchs des russisch-japanischen Krieges wieder zum Dienst einberufen, den er im 156. Elisabethpol-Regiment durchlief, das im Grenzgebiet zur Türkei, von der ein möglicher Angriff erwartet wurde, stationiert war [54]. Es war zu diesem Zeitpunkt, dass er Nina Nikolaewna Leonowa kennen lernte. Ihr Vater, einer der Helden des russisch-türkischen Krieges von 1877-78, war Hauptmann dieses Regiments [55].

Hier lernte er beim Tanz Nina Nikolaewna Leonowa, die jüngste Tochter der Witwe des Hauptmanns der örtlichen Garnison und meine künftige Mutter, kennen. Nina Nikolaevna lebte mit ihrer Familie in einem bescheidenen Häuschen und war 12 Jahre jünger als er. Ninas Mutter Julia Iwanowna, meine Großmutter, war die Tochter des vermögenslosen Kaufmanns Kurepin aus Kaluga (laut Nikolai Leonows Dienstzeugnis [56] war sie die Tochter des Kollegienregistrators Kuretin). Ihr Vater, Nikolai Iwanowitsch Leonow, starb, als meine Mutter 3 Jahre alt war, so dass alle Kinder (4 an der Zahl) auf staatliche Kosten großgezogen wurden… Nina ging aufs Gymnasium in Tiflis und war eine ausgezeichnete Schülerin; sie erhielt Auszeichnungen und Ehrenurkunden...

Das neuvermählte Paar trat im Winter 1905/1906 seine Hochzeitsreise nach Deutschland an. Am 15. Januar 1907 (nach dem alten Kalender) kam Eduards und Ninas erster Sohn Valentin, mein Vater, zur Welt. Im August des folgenden Jahres wurde die Tochter Tatjana geboren (07.08.1908-24.09.2010). Sie hatten keine weiteren Kinder.

Ich erinnere mich an ihn auf den Paraden zu Beginn des 1. Weltkriegs. Das Publikum bewunderte ihn für seine Reitkünste, obwohl er schon über 40 war! In den 7 Jahren des 1. Weltkriegs und des Bürgerkrieges hat er nicht einen Kratzer abbekommen, obwohl direkt neben ihm 3 Regimentskommandeure getötet wurden.

Eduard Alexandrowitsch kämpfte an der Südwest-Front gegen die Österreicher. Während der Kämpfe im Juli 1915 erlitt er zweimal einen Granatenschock, blieb jedoch beide Male bei der Truppe [57].

Er stieg bis zum Rang eines Stabs-Kapitäns auf, durchlief den gesamten Ersten Weltkrieg als Adjutant, wurde für seine Tapferkeit mit dem „Anna“- und „Stanislaw“-Orden mit Schwertern ausgezeichnet. In der 1918 ausgerufenen Wolgadeutschen Republik war er aktiver Mitarbeiter der „Kommission zur Bekämpfung von Desertionen“. 

Mein Vater erzählte mir, dass mein Großvater bei seinen Kameraden sehr beliebt war. Nach der Februarrevolution wurden viele Offiziere durch aufständische Soldaten verhaftet und sogar getötet, meinen Großvater aber ließen sie unbehelligt und verrieten ihn nicht. Das letzte vom Regimentsadjutanten und Stabs-Kapitän E. A. Rauschenbach unterzeichnete Dokument trägt das Datum 28.08.1917. Im Russischen Staatlichen Militärarchiv stieß ich auf einen Brief, der an meinen Großvater adressiert ist. Dem Inhalt und der Rechtschreibung nach zu urteilen, wurde der Brief von einem Mannschaftssoldaten bzw. von einem zum Unteroffizier beförderten Soldaten verfasst, der infolge einer Verwundung in irgendein Lazarett in Petrograd gekommen war. Der Autor des Briefes berichtet detailliert von seinem Lazarettaufenthalt, beklagt die Teuerung in der Hauptstadt usw. Das Interessante ist jedoch nicht der Inhalt des Briefes, sondern der Umstand, dass ein Soldat von niedrigerem Dienstgrad einem Regimentsadjutanten und Offizier schreibt und sich an ihn wie an einen engen Freund wendet.

Eduard Alexandrowitsch war ein gläubiger Mann und regelmäßiger Kirchengänger. Tante Tanja erinnerte sich, wie einst, im Jahre 1924 oder 1925, eine Freundin in ihr Haus gerannt kam und zu berichten begann, wie sie soeben in der Kirche gewesen sei und dort einen Mann so inbrünstig zu Gott habe beten sehen, dass sie dadurch zutiefst erschüttert worden sei. Er habe ein derart merkwürdiges Gesicht dabei gehabt, und solche Augen… In diesem Augenblick kam Eduard Alexandrowitsch ins Zimmer. Da verschlug es der Freundin die Sprache und sie schwieg, bis er wieder hinausgegangen war. Wie sich herausstellte, war der Mann, den sie soeben in der Kirche gesehen hatte, Eduard Alexandrowitsch.

Wie alle seine Brüder und Schwestern, war Eduard Alexandrowitsch edelgesinnt, hasste die geringste Unehrlichkeit und Lüge und bezahlte diese Eigenschaften während des Stalin-Terrors im Jahre 1937 mit dem Leben. Er wurde 64 Jahre alt. 1961 wurde er rehabilitiert. Ich erhielt sogar eine gefälschte Bescheinigung über seinen Tod im Jahre 1943. Angebliche Todesursache: Sarkom...

Wie aus den Akten zu seinem Fall (№ 11091) hervorgeht, wurde Eduard Alexandrowitsch am 8. Oktober 1937 um 24 Uhr und 5 Minuten (sic!) verhaftet. Im Durchsuchungsprotokoll wird neben einigen wenigen persönlichen Habseligkeiten auch ein „deutsches Gebetsbuch“ erwähnt. Zu den Vorwürfen der antisowjetischen Propaganda und konterrevolutionären Tätigkeit (Art. 58, Paragraph 10 des Strafgesetzbuchs der RSFSR), die gegen ihn erhoben wurden, bekannte er sich weder bei dem Verhör am 25. November noch bei der direkten Gegenüberstellung mit zwei Denunzianten am 8. Dezember. Am 15. Dezember desselben Jahres wurde er um 22 Uhr erschossen [58]. Seine Asche wurde wahrscheinlich in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Woskresensk-Friedhof in Saratow beigesetzt.

Nina Nikolaewna Rauschenbach (10.01.1885-14.04.1956) zeigte keine Furcht und schrieb an alle Instanzen, die sie von der Unschuld ihres Mannes zu überzeugen versuchte. Wie durch ein Wunder wurde sie nicht verhaftet, obwohl man schon bald nach der Verhaftung Eduard Alexandrowitschs kam, um ihre Tochter (meine Tante Tanja) „zu  holen“. Tatjana rettete nur der Umstand, dass sie mit hohem Fieber im Bett lag; die Festnahme wurde auf den nächsten Tag verschoben. Ihre fünfjährige Tochter, meine Cousine Galja, wollte man in ein Waisenhaus bringen. Früh am nächsten Morgen kam meine Tante mit Nina Nikolaewna in ein Krankenhaus gerannt. Der dortige Chefarzt Lebedew beschloss, sie zu retten: zunächst ließ er meine Tante in sein Krankenhaus einweisen, danach veranlasste er mit Hilfe S. A. Tschesnokows, des Volkskommissars für Gesundheit, ihre Überweisung in die Moskauer Fronstein-Klinik, wo sie dem Blickfeld der Saratower „Behörden“ entschwand. Zur gleichen Zeit schnappte sich Großmutter Ljolja (Eleonora Alexandrowna) Galja und brachte sie zu Verwandten ihres Vaters nach Murom.

Kurz vor dem Krieg, als Tante Tanja sich in Moskau niedergelassen hatte, zog auch Nina Nikolaewna dorthin. Als ihr Sohn im Jahre 1944 aus Moskau verbannt wurde (siehe unten), schrieb sie mit dem gleichen Mut, den sie bereits in den Jahren 1937-39 bewiesen hatte, an die „höchsten Namen“ und versuchte, eine Rehabilitierung ihres Sohnes – wie zuvor schon ihres Mannes – zu erwirken, obwohl darauf keinerlei Hoffnung bestehen konnte; später besuchte sie ihren Sohn in Sibirien. Sie selbst lebte bis zu ihrem Tod in Moskau.

1.1.1.1.1.2.1. Valentin Eduardowitsch Rauschenbach (15.01.1907-24.02.1991).

Valentin Eduardowitsch kam am 15. (nach dem neuen Kalender am 28.) Januar 1907 zur Welt. Seine Eltern ließen sich, nach Angaben seiner Schwester, in Sarikamis trauen. Sarikamis ging nach dem 1. Weltkrieg an die Türkei über, so dass es heute schwierig ist, das genaue Datum und die übrigen Umstände der Hochzeit in Erfahrung zu bringen. Nach den Gesetzen des Russischen Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Ehen zwischen orthodoxen und anderskonfessionellen Christen nur unter der Bedingung erlaubt, dass die Vermählung in einer orthodoxen Kirche stattfinde und eventuell künftig geborene Kinder ebenfalls nach dem orthodoxen Glauben getauft und erzogen würden. Einige Zeit später wurde diese Bestimmung wieder aufgehoben, doch im Falle unserer Vorfahren verhielt sich alles genau so. Nebenbei gesagt: In unserem Zweig der Familie Rauschenbach sind erst in dieser Generation Mischehen aufgetreten, wobei die Ehefrauen Eduards und Wladimirs Nachkommen adliger Familien sind. Etwa zur selben Zeit, im frühen 20. Jahrhundert, kam es auch in anderen Zweigen unseres Stammbaums zu Mischehen.

Valentin wurde am 28. Februar (nach dem gregorianischen Kalender am 13. März) 1907 in der Kirche „Woznesensko-Sennovskaja“ (Mitrofanjewskaja) in Saratow getauft. Die Taufpaten waren Jakow Jakowlewitsch Korowaj-Metelizkij (Hauptmann des Elisabethpol-Regiments und Ehemann von Leonilla Leonowa) und Elena Andreewna Rauschenbach (geb. Kraft; Ehefrau von Nikolai Rauschenbach). Das Sakrament der Taufe wurde durch Erzpriester Alexander Below vorgenommen [59].

Die Kinder- und Jugendjahre verbrachte mein Vater größtenteils in Saratow, teilweise auch in Baronsk. Er studierte an der Handelsschule, danach am Technikum für Industrie und Wirtschaft in Saratow (1922-26). Er beschäftigte sich mit Fremdsprachen, absolvierte erfolgreich einen dreijährigen Sprachkurs an der Fakultät für die englische, danach auch für die deutsche Sprache (1928). In den Jahren 1928-1931 arbeitete er als Deutschlehrer an der Schule bei der Station Lew Tolstoi (Lipezk Gebiet).

Im Jahre 1931 reichte er bei der Fakultät für Deutsch am Moskauer Institut für neue Sprachen seine Unterlagen ein und konnte daraufhin gleich im 2. Jahr dort einsteigen. Im Jahre 1933 machte er vorzeitig seinen Abschluss. Von 1933 bis 1936 hatte er drei Arbeitstellen zugleich. Im Jahre 1936 begann er am Moskauer Institut für neue Sprachen eine Aspirantur, die er 1939 beendigte. Er war der zweite Absolvent in der Geschichte des Instituts, der den Studiengang als Aspirant abschloss, und der erste, der eine Doktor-Dissertation verteidigte (1939). Gleichzeitig fuhr er fort, zu arbeiten und zu unterrichten, darunter am Eisenbahn-Technikum. Im Jahre 1938 veröffentlichte er ein „Handbuch für Eisenbahn-Universitäten und –Fachschulen“. Im selben Jahr wurde er Assistent des Dekans und 1939 Dekan an seiner eigenen Fakultät. Im Jahre 1940 wurde er in seinem Range als Dozent bestätigt. In dieser Position hatte er einen Lehrstuhl für Methodik inne und leitete die Abteilung für Aspirantur. Zu dieser Zeit kristallisierte sich Valentin Eduardowitschs Interessengebiet endgültig heraus: angewandte Germanistik und Fremdsprachendidaktik. Er arbeitete viel, hielt Vorlesungen an Hochschulen in anderen Städten.

Im August 1941 wurde er zur Aushebung von Panzerabwehrgräben bei Malojaroslawez einberufen, was ihn vor der sofortigen Vertreibung, wie im berühmten Erlass vom 28.08.1941 verordnet, bewahrte. Im September kehrte er nach Moskau zurück, wo man mittlerweile andere Sorgen hatte als sich um die Vertreibung der Deutschen zu kümmern. Seit Dezember 1941 hatte er am Moskauer Institut für neue Sprachen den Lehrstuhl für Methodik inne und lehrte außerdem am Militärinstitut für Fremdsprachen der Roten Armee. In den darauffolgenden drei Jahren wurde mein Vater zweimal in die so genannte Arbeitsarmee einberufen, doch beide Male wurde er von der Institutsleitung wieder „frei geschlagen“. Erst im November 1944 wurde mein Vater aus Moskau verbannt und in einer Sondersiedlung in Nowosibirsk angesiedelt [60].

Am Pädagogischen Institut in Nowosibirsk war er an der Einrichtung einer Fakultät für Fremdsprachen beteiligt. Er wurde zum ersten Dekan dieser Fakultät und hatte dort einen Lehrstuhl inne. Im Jahre 1948 verordnete das Bezirkskomitee von Nowosibirsk die Entlassung aller deutschen Dozenten aus den Hochschulen, und so zogen wir nach Krasnojarsk. Mein Vater arbeitete dort am Pädagogischen Institut sowie am Institut für Lehrerfortbildung, bis das Gebietsparteikomitee von Krasnojarsk ihn weiter nach Osten abkommandierte.

Auf diese Weise kamen wir im September 1950 nach Irkutsk, wo mein Vater eine Stelle in der Ost-Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR annahm. Dort lebten wir sechs Jahre. 1956 hatte sich die Situation im Lande verändert und es bot sich uns die Möglichkeit, fortzuziehen. Auf den von der Moskauer Veterinär-Akademie ausgerufenen Wettbewerb hin entsandte mein Vater seine Unterlagen und erhielt eine Stelle als Leiter des Lehrstuhls für Fremdsprachen. Er arbeitete bis 1979 an der Moskauer Veterinär-Akademie. In den letzten 35 Jahren seines Lebens in Moskau veröffentlichte mein Vater eine große Anzahl von Arbeiten in wissenschaftlichen Publikationen der UdSSR und der DDR, gab ein „Kurzes praktisches Selbstlernbuch der deutschen Sprache“ heraus, das sich viele Jahre großer Beliebtheit erfreute. Im Jahre 1967  wurde ihm der Titel „Professor honoris causa“ verliehen. Achtzehn Jahre lang leitete er die Fremdsprachenabteilung und die Abteilung für russische Sprache bei der Generaldirektion für landwirtschaftliche Bildung des Landwirtschaftsministeriums der UdSSR.

Besondere Erwähnung verdient seine außergewöhnliche Arbeitsfähigkeit und sein organisatorisches Talent. Nachdem er die Moskauer Veterinär-Akademie verlassen hatte, richtete er im Präsidium der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften einen Lehrstuhl für intensive Fremdsprachendidaktik ein, der für Aspiranten und wissenschaftliche Mitarbeiter vorgesehen war. Nach seiner Pensionierung im Alter von fast 75 Jahren fuhr er fort zu arbeiten, indem er verschiedene Möglichkeiten fand, um sein Wissen und seine Erfahrungen nutzbar anzuwenden. Als in den Jahren der „Perestroika“ die Genossenschaften entstanden, organisierte er Intensivlernkurse bei der Genossenschaft „Buchzeichen“. Später organisierte er auf öffentliche Kosten Deutschkurse bei der Gesellschaft der „Sowjetdeutschen“ Wiedergeburt. Mein Vater war von Anfang an, seit ihrer Gründung, Mitglied dieser Gesellschaft. Er nahm sich schon immer alles sehr zu Herzen, was das Schicksal der Russlanddeutschen betraf, und stand im Kontakt mit denjenigen von ihnen, die eine aktive Rolle im Kultur- und Bildungswesen usw. einnahmen. Ende der 80er Jahre lebte die Hoffnung auf eine Wiedergeburt der Wolgadeutschen Republik in der einen oder anderen Form wieder auf, und mein Vater stürzte sich kopfüber in die mit dieser Frage verbundene öffentliche Arbeit. Bis zur letzten Stunde seines Lebens bemühte er sich, seinem Volk eine Hilfe zu sein. Der Tod ereilte ihn buchstäblich an der Schwelle zum „Zentralhaus des Journalisten“, wo am 24. Februar 1991 eine organisatorische Besprechung im Vorfeld einer Versammlung der damals noch „sowjetischen“ Deutschen stattfinden sollte.

 

Wenn ich nun zum Anfang dieses Artikels zurückkehre, will ich darauf hinweisen, dass die erfolgreiche Rekonstruktion unseres Stammbaums durch die Einmaligkeit unserer Familie begünstigt wurde. Selbst in Deutschland gibt es nicht viele Rauschenbachs, etwa 2000 an der Zahl (laut Webseite www.verwandt.de). Am häufigsten ist dieser Name in Thüringen und Sachsen, insbesondere in Leipzig (von wo auch der Stammvater unseres Geschlechts stammte), zu finden. Aber auch dort leben heute nur einige Dutzend Rauschenbachs. Nach Russland aber kam während der ganzen Zeitspanne der russisch-deutschen Beziehungen nur eine einzige Familie Rauschenbach. Heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends nach Christi Geburt, sind einige der Nachkommen Karl Friedrich Rauschenbachs in ihre historische Heimat zurückgekehrt, die Mehrheit aber lebt weiterhin innerhalb der Grenzen des ehemaligen Russischen Reiches – in Russland, Kasachstan, Estland. Alle dort lebenden Rauschenbachs sind, im Gegensatz zu den in Deutschland lebenden, untereinander verwandt, wenn auch oft sehr entfernt. Neben den verwandtschaftlich mir am nächsten stehenden „Johannowitschs“ sind mir auch viele „Jakowlewitschs“ (so die Moskauer Familie von B. W. Rauschenbach und deren Verwandte in Sankt Petersburg und Deutschland) und „Heinrichowitschs“ (Nowosibirsk, Alma-Ata, Tallin, München) bekannt. Igor Oskarowitsch Rauschenbach, ein „Heinrichowitsch“, hat seinen eigenen Zweig des genealogischen Stammbaums, beim Urgroßvater Johann Heinrich angefangen, rekonstruiert. Vom Zweige der „Karlowitschs“ war mir nur Vera Beljakowa-Miller bekannt. Von den „Friedrichowitschs“ hab ich bislang noch niemanden getroffen. Insgesamt sind dies einige Dutzend heute lebender Menschen, von denen weniger als die Hälfte den Familiennamen ihres Stammvaters bewahrt hat. Man kann ruhigen Gewissens behaupten, dass die Gesamtzahl aller Nachkommen Karl Friedrichs (mehr als zwei Jahrhunderte umfassend) in die Hunderte geht.

Zusammenfassend können wir sagen, dass von einem Ehepaar, das vor 245 Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben nach Russland gekommen war, eine Vielzahl von Menschen abstammte, von denen einige eine bemerkenswerte Rolle im Leben unseres Landes gespielt haben. Hätte Karl Friedrich Rauschenbach ahnen können, dass es unter seinen Nachkommen nicht nur Bauern oder, mit viel Glück, Kaufmänner geben würde, sondern auch Ingenieure, Agronome, Lehrer, verdiente Ärzte, Professoren und Akademiker? Hätte er ahnen können, dass eine Walnuss-Sorte seinen Namen tragen oder dass sein Ururururenkel einer der bekanntesten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts werden würde? Im vergangenen Jahrhundert teilten viele Rauschenbachs das tragische Schicksal ihres Volkes und wurden ins Exil und in Arbeitslager geschickt oder hingerichtet. Einige starben den Heldentod, während sie das ihnen zur Heimat gewordene Russland verteidigten. Heute, in einer relativ ruhigen Zeit in der Geschichte Russlands und Europas als Ganze, haben wir Zeit, um „die Steine zu sammeln“. Vielleicht reagiert ja einer der Nachkommen Karl Friedrich Rauschenbachs auf diese Publikation, und die Geschichte unserer Familie wird um einen weißen Fleck ärmer.

 

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53.       РГВИА. – Ф. 400. – Оп. 17. – Д. 14981. –Л. 803-810.

54.      РГВИА. – Ф. 2968. – Оп.1. – Д. 69. – Л. 29.               

55.      Боевая деятельность в 1877-1878 гг. 153 пехотного бакинского Е.И.В. Великого Князя Сергiя Михайловича полка. – Тифлис, 1888. – С. 28, 49, 53, 57, 70, 100, 111, 143.

56.       РГВИА. – Ф. 400. – Оп. 12. – Д.16926. – Л.9-16.

57.       РГВИА. – Ф. 2968. – Оп.1. – Д.70. – Л.53, 53об.

58.      Дело по обвинению Раушенбаха Э.А. по ст.58 п.10 УК РСФСР № 11091 от 08.10.1937 (ОФ № 18602). – Л.1-27.                       

59.       ГАСО. – Ф. 637.- Оп. – 2. – Д. 686.

60.      Дело на Раушенбаха В.Э. об удалении из Москвы № 2583. – Л. 1-29; архивное личное дело спецпоселенца № 16-19-499. – Л. 1-109 (арх.№  со 1891).