Grundriss der Geschichte der Rauschenbachs in Russland

Die Geschichte der Familie Rauschenbach in Russland beginnt in der zweiten Hälfte des Jahres 1766. Das genaue Datum kennen wir nicht, aber allen uns verfügbaren Informationen zufolge kamen unsere Vorfahren – die Frischvermählten Carl Friedrich und Sophie Friederike Johanna Rauschenbach – zusammen mit über 20000 künftigen Kolonisten des Wolgagebiets exakt zu diesem Zeitpunkt in Oranienbaum an. Damals wurde der Anfang für unsere Familiengeschichte in Russland gelegt, die bis zum heutigen Zeitpunkt zehn Generationen umfasst.

Über unsere Wurzeln in Deutschland ist nicht sehr viel bekannt. Unser Stammvater Johann David Rauschenbach wurde um das Jahr 1681, vermutlich in Sachsen, nicht weit von Leipzig, geboren. Dokumentarisch belegte Angaben über ihn reichen zurück bis ins 18. Jahrhundert: zum ersten Mal erwähnt finden wir ihn zusammen mit seiner Ehefrau Dorothea (geb. Bauer) im Taufbuch der Leipziger Nikolaikirche, wo am 15. Mai 1708 ihre gemeinsame Tochter Maria Magdalena getauft wurde. Es war uns nicht möglich, an irgendwelche Informationen über die Taufe von Johann David und seiner Frau oder deren Verlobung in Leipzig heranzukommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach kamen die Eheleute auf der Suche nach Arbeit aus einem nahe gelegenen Ort nach Leipzig. Sie hatten fünf Kinder, darunter nur einen einzigen Sohn: Johann Gottfried (*1719) 2.

Johann Gottfried Rauschenbach heiratete Johanna Elisabeth (geb. Geisler) im Jahre 1739. Sie hatten fünf Kinder, von den Knaben überlebte aber nur einer – Carl Friedrich (*1744) – das Säuglingsalter. Die Eheleute Gottfried und Johanna baten für gewöhnlich andere Bürger, die auf der gesellschaftlichen Leiter nicht weit von ihnen standen – Handwerker, Gesellen, Einwohner, seltener Leipziger Bürger – die Rolle der Pateneltern zu übernehmen. Oftmals traten Minderjährige als Pateneltern auf, an deren Stelle ihre Eltern am Sakrament teilnahmen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Eintrag über Karl Friedrichs Taufe als erstaunlich. Im Folgenden sei er in voller Länge wiedergegeben:

Abschrift aus dem Taufbuch der Nikolaikirche Leipzig

Jahrgang 1744 Seite 391 Mens: Aprilis. 1744

Carl Friedrich Den 18. tauffte Herr, M[agister]. Gotthelf Ehrenfried Lechla, V[ater]. Johann Gottfried Rauschenbach, Einwohner alhier, M[utter]. Frau Johanna Elisabeth, gebohrene Geißlerin. P[aten]. 1.) Herr, D[r]. Christian Friedrich Schmidt, des OberHoffgerichts und Consistorii Advocatus Ordinarius alhier, 2.) Jungfer Johanna Benedicta, Herrn, D. Christian Gottfried Mörlinußens, Vornehmen des Raths alhier, ehel[iche]. Jungfer Tochter, 3.) Herr, M. Carl Friedrich Petzoldt, Diaconus und Vesper-Prediger bey der Kirche zu St. Thomae alhier.

Als erster Taufpate wird Christian Friedrich Schmidt, ordentlicher Advokat des Oberhofgerichts und Konsistorium, genannt. Die zweite Patin, die junge Johanna Benedicta Mörlinus, stammt aus einer bekannten Leipziger Familie gelehrter Juristen mit einer jahrhundertealten Tradition. Der dritte und letzte Pate, Carl Friedrich Petzold, dessen beide Vornamen das Neugeborene erhielt, war Diakon und Prediger bei der Thomaskirche. Sie alle gehörten zum Kreise der höchst angesehensten Bürger. Nichtsdestotrotz waren sie bereit, die Patenschaft für ein Kind zu übernehmen, dessen Eltern einen viel niedrigeren sozialen Status innehatten. Dieses Rätsel können wir leider nicht lösen. Es sei lediglich wiederholt, dass weder vor noch nach der Geburt von Karl Friedrich bei keinem seiner Geschwister Pateneltern von vergleichbarer sozialer Stellung aufgetreten sind.

Im Leipziger Adressbuch von 1746 finden wir unter den Klerikern der Nikolaikirche Gotthelf Ehrenfried Lechla, der unseren Vorfahren taufte, bereits im Range eines Doktors der Theologie und Archidiakons. Ein paar Zeilen weiter unten sehen wir unter den Kirchendienern den Musikdirektor und Kantor Johann Sebastian Bach. Bekanntermaßen hatte der große Komponist diese Stellungen in den beiden wichtigsten Kirchen Leipzigs, der Nikolaikirche und der Thomaskirche, inne, wobei er in der Nikolaikirche den Großteil seiner geistlichen Werke vortrug. Zweifelsohne hatte der Säugling Karl die Gelegenheit, Bachs Musik bei dessen Auftritten im Rahmen der sonntäglichen Gottesdienste zu hören.

 

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Nikolaikirche in 18. Jh.

Im Jahre 1757 heiratete der verwitwete Johann Gottfried zum zweiten Male. Der 15-jährige Karl bekam eine Stiefmutter und damit vier Halbbrüder und Halbschwestern (die beiden Stiefbrüder aus der ersten Ehe seiner Stiefmutter nicht mitgerechnet). Sie ließen sich im Haus Nr. 5, dem Gasthof „Zum Halben Mond”, in der Halleschen Gasse in der Altstadt, nicht weit von der Nikolaikirche, nieder.

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Gasthof zum Halben Mond. Heinrich Georg Drescher, 1907 

Quelle: http://museum.zib.de/sgml_internet/sgml.php?seite=5&fld_0=Z0072370

Es ist kaum anzunehmen, dass Johann Gottfried die kinderreiche Familie mit seinem Verdienst als Tagelöhner ausreichend versorgen konnte, zumal im Jahre 1756 der Siebenjährige Krieg ausbrach, der die meisten deutschen Staaten, und Sachsen insbesondere, verwüstete. Nach dem Kriege rief die russische Zarin Katharina II. (geborene Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst) ihre Landsleute sowie andere Europäer zur Emigration nach Russland auf, um dort die brachliegenden Felder zu bestellen. Das Manifest der Zarin versprach Reisebeihilfen und kostenlosen Transport, langfristige zinslose Darlehen für die Gründung von Heim und Hof, mietfreie Grundstücke, Religionsfreiheit, Befreiung von der Steuerpflicht auf lange Zeit und von der Wehrpflicht – auf ewig. Im verwüsteten Deutschland wurde dieser Aufruf von so vielen Menschen wahrgenommen, dass eine ganze Reihe deutscher Fürsten ihren Untertanen die Emigration verbot. Zu diesen Fürsten gehörte auch der Kurfürst von Sachsen, so dass der 22-jährige Karl, für den in seiner Heimat nur geringe Hoffnung auf eine glänzende Zukunft bestand, gezwungen war, zu fliehen und sich illegal in Russland niederzulassen.

Aus diesem Grunde haben wir leider keine Möglichkeit, zu erfahren, wann und wie genau er sich auf den Weg machte. Wir wissen nur, dass er sich am 26. Juni 1766 in Roslau, dem damaligen Sammelpunkt für Aussiedler, mit Sophie Friederike (geb. Grune) verlobte. Hier wurden im Juni ungewöhnlich viele Verlobungen registriert, was darauf schließen lässt, dass es sich dabei um künftige Kolonisten handelte. Es ist sicher ein sinnvoller Schritt, vor dem Auszug in die Fremde eine Familie zu gründen. Zudem wäre es sicher nicht leicht gewesen, in den menschenleeren Steppen des Wolgagebiets seine bessere Hälfte zu finden.  

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St. Marien Kirche, Roßlau

Die Reise war lang und beschwerlich. Allein auf der Strecke von Oranienbaum bis Saratow kamen ca. 12% der Aussiedler, also jeder achte, ums Leben. Unsere Vorfahren ließen sich am 3. August 1767 in der Kolonie Niedermonjou nieder, wo sie ein Grundstück, ein Haus, zwei Pferde und eine Kuh, landwirtschaftliches Gerät und Samen zur Aussaat erhielten. Dem Städter Karl fiel das Leben eines Ackerbauers gewiss nicht leicht. Bereits im darauffolgenden Jahr starb eines der Pferde, und es ist sehr schwer, das Neuland mit nur einem Pferd zu pflügen. Laut Familienüberlieferung arbeitete Karl einige Zeit als Stallbursche bei einem der größten Kolonistenanwerber, dem sogenannten Baron Beauregard. Wann und wo das geschehen konnte, wissen wir nicht.

Knapp zwei Jahre nach der Ansiedlung in Niedermonjou bekam das junge Ehepaar einen Sohn, der, wahrscheinlich zu Ehren des Großvaters väterlicherseits, den Namen Johann Gottfried erhielt. Er war der erste in Russland geborene Rauschenbach. Nachdem er die Witwe Christine Miller geheiratet hatte, verließ Gottfried Im Jahre 1792 Niedermonjou und ließ sich in Katharinenstadt3 nieder. Im selben Jahr kam der gemeinsame Sohn Johann Jakob zur Welt. Es ist bemerkenswert, dass das Schicksal unserer Familie mehrere Generationen hindurch buchstäblich am seidenen Faden hing: der Leipziger Johann Gottfried, dessen Sohn Karl Friedrich, Enkel Johann Gottfried, Urenkel Johann Jakob – sie alle waren die einzigen überlebenden Söhne ihrer Eltern. Nur Johann Jakob hatte sechs Söhne, von denen fünf eine reiche Nachkommenschaft zeugten.

Detaillierte Berichte über das weitere Schicksal unserer Familie findet man in der Rubrik Bibliothek. An dieser Stelle wollen wir uns aber nur auf einige Bemerkungen ganz allgemeiner Natur beschränken.

Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten alle Rauschenbachs in Katharinenstadt. Angefangen bei Johann Jakob, wurden sie Kaufmänner, Kaufmannnsöhne und -Töchter genannt. Außerhalb der Kolonien hielt man sie jedoch für Kolonisten, später für Siedlereigentümer. Einige erwarben sich den Ehrenbürger-Status, nur wenige aber wurden dem Saratower Kaufmannsstand zugeordnet. In der Folgezeit siedelten einzelne Rauschenbachs an andere Orte über, zuerst nach Balakowo und Saratow, danach nach Moskau und St. Petersburg. Lange Zeit suchte man sich die Braut oder den Bräutigam aus dem Kreise der Kolonisten, es kam zu Eheschließungen zwischen Verwandten, z.B. Cousins und Cousinen. Zählen wir einmal die uns bekannten Familien von Wolgadeutschen auf, mit deren Vertretern die Rauschenbachs bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts Eheschließungen eingingen: Asmus, Bauer, Emig, Ernst, Feidel, Hämmerling, Kalert, Kraft, Liebig, Lotz, Müller, Ritter, Schmidt, Seifert, Staff, Trippel, Wasmuth.

Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts kommt es zu ersten Mischehen außerhalb der Kolonien (in Saratow). In einigen Fällen gehören die Bräute oder die Bräutigams dem Adelsstand an. Anfang des 20. Jahrhunderts erhalten die Jugendlichen in der Regel eine abgeschlossene Mittel- und Hochschulausbildung. Bis zu den 1920er Jahren siedeln viele Rauschenbachs um und lassen sich außerhalb des Wolgagebiets, vor allem in Sibirien und Mittelasien, nieder. Die Deportation der Deutschen im Jahre 1941 bewirkte, dass im Wolgagebiet kein einziger Vertreter unserer Familie übrig blieb.

Mitte des 20. Jahrhunderts finden wir die Rauschenbachs praktisch über das gesamte Gebiet des ehemaligen Russischen Reiches – von der Ostsee bis nach Fernost – verteilt. Viele von ihnen sind Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Dozenten an Schulen und Universitäten, mit einem Wort: Vertreter der „städtischen“ Berufe. Mit landwirtschaftlichen Berufen, einst so traditionell für die Rauschenbachs, haben nur sehr wenige zu tun.

Mit dem Beginn des dritten Jahrtausends sind einige der Nachkommen Karl Friedrichs nach Deutschland zurückgekehrt, womit sie den einst begonnenen Kreis ihrer Wanderungen gewissermaßen wieder schlossen.

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Einige Anmerkungen zu den Quellen unserer Familieninformationen. Wo immer es möglich war, haben wir versucht, primäre dokumentarische Belege zu finden – Einträge in Kirchenbüchern, Daten aus Volkserfassungen, Familienlisten und Dienstzeugnisse, Akten zu Erb- und leider auch Ermittlungsfällen. Neben primären Quellen wurden auch sekundäre verwendet, z. B. die in den USA veröffentlichten Volkszählungsergebnisse von 1798 oder die in Deutschland herausgegebenen Listen der Erstbesiedler des Wolgagebietes usw. Eine hinreichend detaillierte und doch unvollständige Quellenliste findet man im Literaturverzeichnis des Artikels „Karl Friedrich Rauschenbach und seine Nachkommen in Russland“ (Rubrik Bibliothek). Man darf nicht außer Acht lassen, dass alle Quellen Ungenauigkeiten und sogar Fehler enthalten, die nicht immer durch den Vergleich von Daten aus unterschiedlichen Quellen aufgedeckt werden können. Zuweilen sind selbst in Taufbüchern, und erst recht in Volkszählungslisten, enthaltene Namen und Daten falsch aufgezeichnet worden. Falls der Leser irgendwelche Fehler auf unserer Webseite entdecken sollte, bitten wir um Mitteilung.

Abschließend seien auch all diejenigen erwähnt, die mit Rat und Tat bei der Sammlung und Veröffentlichung des Forschungsmaterials behilflich waren. Die Grundlage für die Nachforschungen bildeten Dokumente und Überlieferungen, die von Valentin Eduardowitsch Rauschenbach im Zeitraum 1960 bis 1990 gesammelt wurden. An der Wiederaufnahme der genealogischen Nachforschungen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hatte Vera Beljakova-Miller, deren Begeisterung eine große Inspiration für mich und viele unserer entfernten Verwandten darstellte, keinen geringen Anteil. Ab dem Jahr 2000 kamen uns bei unserer genealogischen Suche wahre Profis auf dem Gebiet der Genealogie und des Archivwesens zu Hilfe: Sergej Kotelnikow, Elisabeth Erina, Michail Katin-Jarzew (aufgeführt in chronologischer Reihenfolge). Dank ihnen konnten die wichtigsten Informationen über den Zweig unseres Stammbaums in Russland gesammelt und veröffentlicht werden. Im Laufe des letzten Jahres konnten dank der freundlichen Unterstützung wohlgesinnter Mitarbeiter vom Archiven Leipzig und Magdeburg viele Informationen über die Geschichte unserer Familie in Deutschland gefunden werden. Diese Mitarbeiter sind Klaus Klein, Carla Calow und Manuel Hahn. Auch der Beitrag von Freunden und Liebhabern der Genealogie darf nicht unterschätzt werden. Allen voran möchten wir uns bei Alexander Spack, Alexander Winter, Andreas Idt, Vladimir Kakorin und allen Mitgliedern des Forums „Die Wolgadeutschen“ (www.wolgadeutsche.net), mit denen wir auch weiterhin im brieflichen Kontakt verbleiben, bedanken. Das auf unserer Seite veröffentlichte Fotomaterial konnte vor allem dank der Bemühungen unserer nahen und fernen Verwandten in Russland und im Ausland gesammelt werden. Bei der Erstellung unserer Webseite, beim Redaktieren, Korrigieren und Übersetzen ausgewählter Materialen usw. waren Mitglieder der Familie behilflich, die aus Bescheidenheit darum baten, ihre Namen unerwähnt zu lassen.

Georg Rauschenbach

Moskau, Februar 2013

 

Anmerkungen:

1 Geburtsdatum laut Eintrag im Ratsleichenbuch; Genauigkeit wird nicht garantiert.

2 Für genauere Informationen siehe Stammbaum.

3 Katharinenstadt = Ekaterinenstadt = Ekaterinograd = Baronsk = Marksstadt = Marks.