Expedition-2013

 

Seit der Expedition 2008 waren einige Jahre vergangen. Es kam das Jahr 2012 – ein Jahr Großer Genealogischer Entdeckungen. Im März erreichte mich ein Brief vom Kirchenarchiv in Leipzig. Es waren Aufzeichnungen über die Taufe Karl Friedrich Rauschenbachs, des Stammesvaters der Rauschenbachs in Russland (siehe Rubrik Geschichte), im Jahre 1744 gefunden worden. Keine zwei Wochen später hielt ich bereits das Taufbuch der Leipziger Nikolaikirche in den Händen. Nebenbei fand ich in dem Sächsischen Staatsarchiv und dem Stadtarchiv Leipzig noch eine Menge anderer interessanter Dokumente. Mitte 2012 waren uns bereits die Namen von Karl Rauschenbachs Eltern, Brüdern und Schwestern, seinen Großeltern sowie die Tauf- und Todesdaten der meisten von ihnen bekannt. Die Bedeutung all dieser Entdeckungen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn was wir fanden, waren unsere Wurzeln in Deutschland.

Doch zum damaligen Zeitpunkt lag das alles noch in der Zukunft. In der Zwischenzeit stellte ich nach meiner Rückkehr nach Moskau Anfang April fest, dass sich ein gewisser Michail Paweljew auf meine Anzeige im Forum www.wolgadeutsche.net, die ich aufgegeben hatte, um nach Rauschenbachs aus Katherinenstadt zu suchen, gemeldet hatte. Wie sich herausstellte, war Michail der Urenkel von Wladimir Alexandrowitsch Rauschenbach, dem jüngeren Bruder meines Großvaters Eduard. Mein Vater hatte mir von seinem Onkel erzählt und in unserem Familienalbum gibt es noch einige Fotos von ihm. Von Stolz auf mein familiäres Wissen und das wertvolle Fotomaterial erfüllt, schickte ich Michail ein paar Bilder. Doch es zeigte sich, dass Michail und seine Halbcousine Vera Emeljanowa eine große Anzahl von Fotos besaßen, die ihr Urgroßvater gemacht hatte. Ein wahrer Schatz! Michail und Vera schickten mir eine Menge eingescannter Fotos und halfen mir, die Ahnentafel der „Johannowitschs“, der Nachkommen Johann Ludwig Rauschenbachs (1823–1854), zu vervollständigen. Viele Bilder waren zu Hause in Saratow und auf dem Bauerngut der Rauschenbachs, das mein Urgroßvater Alexander gegründet hatte, entstanden. Schließlich kam meinen neugefundenen Verwandten eine Idee – warum sollten wir nicht gemeinsam nach Saratow fahren und vielleicht sogar den Bauernhof besuchen?

Dieser Vorschlag weckte in mir keine Begeisterung. Unsere wichtigste Entdeckung im Jahre 2008, nämlich das Haus an der Straßenecke Proviantskaja/Konstantinowskaja, existiert nicht mehr. Irgendwelche sonstigen Spuren unserer Vorfahren in Saratow konnten wir bislang nicht aufspüren. Eine andere Sache wäre es, wenn es uns gelänge, den Bauernhof aufzufinden… Aber alle meine bisherigen Versuche, ihn ausfindig zu machen, waren gescheitert. Der einzige mir im Rajon Fjodorowka bekannte und auf der Vorkriegskarte vermerkte Bauernhof Rauschenbach stand in keiner Beziehung zur Familie meines Urgroßvaters. Er gehörte den Brüdern Rauschenbach, die ebenfalls mit uns verwandt waren, jedoch nicht in direkter Linie. Anfragen auf dem Forum der Wolgadeutschen waren bislang erfolglos geblieben. Die „Aufzeichnungen“ meines Vaters  enthielten keinerlei geographische Anhänge. Die wenigen Vermerke, die mein Vater auf den Fotos gemacht hatte, brachten auch nicht wirklich Licht ins Dunkel: mal befand sich der Bauernhof irgendwo bei Balakowo, mal auf dem Bolschoj Irgis… Aber das ist ja auch nicht überraschend, denn der Bauernhof wurde etwa drei Jahre vor der Geburt meines Vaters verkauft und mein Vater ist niemals selbst dort gewesen.

Dann waren noch zwei weitere Ereignisse eingetroffen, die den krönenden Abschluss des glorreichen Jahres 2012 bildeten und über die ich hier ausführlicher und der Reihe nach berichten möchte.

Die Müllers

Vier Generationen lang heirateten meine männlichen Vorfahren stets Frauen oder Witwen aus anderen wolgadeutschen Familien. Johann Gottfried, der Sohn des Erstansiedlers, heiratete die Witwe Sofia Christina Müller, geb. Wasmuth. Sein Sohn Johann Jakob nahm Sofia Maria Lotz zur Frau; beide Ehen wurden „innerhalb“ von Katherinenstadt geschlossen. Die Linien der Familien Wasmuth und Lotz können wir bis zu den Erstansiedlern, die 1766 in Russland eintrafen, zurückfolgen. Schwieriger wird es mit der nächsten Generation.

Aus den „Aufzeichnungen“ von V. E. Rauschenbach wissen wir, dass mein Ururgroßvater Johann Ludwig eine gewisse Christine Müller heiratete. Laut Volkszählungsbüchern können wir ihr ungefähres Geburtsjahr mit 1826 angeben. Das ist aber auch schon alles, was sich dokumentarisch belegen lässt. Wo sie geboren ist und wer ihre Eltern waren, ist nicht bekannt. Es wurde lediglich berichtet, dass sie einen Bruder namens Fjodor (Friedrich) Karlowitsch Miller hatte. Ich zitiere aus den „Aufzeichnungen“:

„Fjodor Karlowitsch, verheiratet mit Amalie Wormsbecher, kinderlos, sehr wohlhabend (Getreide- und Bodenhandel), lebte in Balakowo an der Wolga (ehemaliges Gouvernement Samara, 100 Km von Baronsk); machte seiner Schwester und ihrem einzigen, 12 Jahre alten Sohn Alexander den Vorschlag, zu ihm zu ziehen“.

Bekannt war auch, dass Alexander Rauschenbach (Sohn von Johann und Christine Rauschenbach) und seine Frau Lydia, geb. Staf, Halbcousins waren. Laut Katharinenstädter Volkszählungsbüchern hießen Anna Lydia Stafs Eltern Konstantin Staf und Johanna Staf, geb. Müller, Geburtsjahr ca. 1824. Zu welcher Schlussfolgerung verleitet uns das?

Erstens: Christines Vater hieß offensichtlich Karl Müller; zumindest einer seiner Namen war Karl.

Zweitens: dieser Karl musste einen Bruder gehabt haben, der wiederum eine Tochter namens Johanna gehabt haben muss.

Drittens: weil bei uns noch immer alle Ehen innerhalb von Katherinenstadt geschlossen wurden und weil sowohl die Rauschenbachs als auch die Stafs zu der Zeit, der hier unsere Betrachtung gilt (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts), in Katherinenstadt, diesem größten Dorf der Wolgaregion, lebten, blieb uns nur anzunehmen, dass die angeheirateten Müllers ebenfalls von dort stammen mussten.

Eine auf diesen Annahmen basierende Suche hat jedoch nichts ergeben. In den Katharinenstädter Volkszählungsbüchern aus den Jahren 1798, 1834, 1850 und 1857 tauchen viele Müllers auf, aber keine dieser Familien kommt für die Rolle unserer Vorfahren in Frage. Die Müllers auf gut Glück irgendwo in der Wolgaregion zu suchen, wäre ein Unternehmen gewesen, für das weder die Zeit noch das Geld gereicht hätten, weil es in so gut wie jeder der etwa 200 Kolonien mindestens eine Familie Müller gegeben hat. Abschließende Daten aus der Volkszählung von 1834 waren nicht veröffentlicht worden, gerade dies war aber der Jahrgang, in dem man nach Karl, Christine, Johanna und höchstwahrscheinlich auch nach Friedrich hätte suchen müssen. Die originalen Volkszählungsbücher werden im Staatsarchiv von Saratow (GASO) aufbewahrt, aber jeder, der mit diesem Archiv schon einmal zu tun hatte, weiß, dass man hier vor einer Sackgasse steht.

Wie sehr ich mich bemühte, auch nur einen einzigen Vertreter „unserer“ Müllers zu finden, es wollte mir einfach nicht gelingen. Gegen Ende des Jahres 2012 führte mich meine endlose Suche auf diversen Foren zu Alexander Winter (www.wolgadeutsche.ucoz.ru), der sich eine Aufgabe von größter Bedeutung zum Ziel gesetzt hatte: er wollte einen einheitlichen Nachnamenindex für die gesamte wolgadeutsche Region erstellen, basierend auf unterschiedlichen Daten aus verschiedenen Jahren, die er tröpchenweise aus veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen zusammenfügte. Das war genau das, was ich brauchte! Da meine Suche der Reihe nach in den einzelnen Kolonien erfolgen musste, bat ich Alexander, irgendwo in der Nähe von Katherinenstadt „unsere Müllers“ zu suchen und dabei Dorf für Dorf durchzugehen. Aber leider blieb die Suche auch diesmal erfolglos.

Aus meiner Korrespondenz mit A. Winter erfuhr ich, dass das Zentrale Staatsarchiv Samara vor kurzem eine Testversion eines automatisierten Informationssystems gestartet hat, die über eine Suchfunktion mit einer riesigen Archiv-Datenbank verbunden war.  Also vertiefte ich mich in die Suche und stieß sofort auf einige höchst interessante Dokumente, die ich von alleine und auf gut Glück niemals gefunden hätte. Darunter befanden sich u.a.:

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1) die Überschreibungsurkunde eines Hofs in Balakowo, 10. Bezirk, № 85, an den Katharinenstädter Bauern Alexander Iwanow Rauschenbach (1875);

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2) die Urkunde über den Verkauf eines Hofs in Balakowo, 10. Bezirk, № 84, an einen Siedler namens Fjodor Jakowlew Müller aus der Kolonie Tarlykowka (1870).

Das war der Durchbruch! Im Jahre 1875 erwirbt Alexander Rauschenbach also einen Hof (Grundstück mit Haus) in Balakowo, in direkter Nachbarschaft zu Fjodor Müller, der seinen Hof fünf Jahre zuvor erworben hatte. Aus den Dokumenten geht hervor, dass F. Müller seit 1860 zur Miete auf seinem Hof lebte. Ohne Zweifel war dieser Fjodor der Onkel meines Urgroßvaters, wenn er auch mit Vatersnamen Jakowlewitsch, und nicht Karlowitsch, hieß. Aber das Wichtigste war: Fjodor stammte aus Tarlykowka, auch Dinkel genannt, einer Kolonie, die auf der gleichen Wiesenseite wie Katherinenstadt, nur bedeutend südlicher, lag. Nun wussten wir, wo wir unsere Müllers zu suchen hatten.

Auf meine Anfrage hin schickte mir A. Winter eine ganze Reihe von Müllers aus Tarlykowka, unter denen sich mit Stand vom 19.10.1834 der Witwer Jakob Müller mit seinen sechs Kindern, darunter Johanna Maria (10 Jahre), Christina Maria (8 Jahre) und der einzige Sohn Georg Friedrich (4 Jahre), befanden. Die Geburtsdaten der Mädchen entsprachen dem in den Volkszählungsbüchern angegebenen Alter von Johanna Staf und Christine Rauschenbach. Laut Volkszählung von 1850 lebte in Jakobs Haushalt zum damaligen Zeitpunkt nur noch der unverheiratete Sohn, die Töchter hatte man schon an den Mann gebracht. 1857 hatte Georg Friedrich eine Ehefrau namens Amalia, Kinder hatten die beiden keine. Es ist interessant, dass Amalias Mädchenname im Volkszählungsbuch mit Strauß, und nicht etwa mit Wormsbecher, angegeben ist. Ob und wessen Fehler das ist, kann ich noch nicht sagen.

Was hatte das alles zu bedeuten? Mein Urururgroßvater aus dieser Linie hieß also Jakob Wilhelm Müller, und nicht Karl. Wie sich bald herausstellte, hießen sowohl sein Sohn als auch seine Töchter mit Vatersnamen Jakowlewitsch/Jakowlewna. Christina und Johanna waren Schwestern, also waren Lydia Staf und Alexander Rauschenbach Cousin und Cousine. Warum war dann aber in den „Aufzeichnungen“ von Fjodor Karlowitsch die Rede? Mein Großvater Eduard konnte den Vatersnamen seines Großonkels, den er seit seiner Geburt in Balakowo gekannt hatte, unmöglich nicht gewusst haben. Als Fjodor Jakowlewitsch starb, war Eduard etwa 17 Jahre alt. Wahrscheinlicher ist, dass mein Vater sich geirrt hatte, als er die Erzählungen meines Großvaters ein halbes Jahrhundert später aus dem Gedächtnis heraus aufschrieb.

Nun musste ich also nur noch den Stammbaum der Müllers bis zu deren ersten Ansiedlern in der Kolonie Tarlykowka zurückverfolgen. Doch hier erlebte ich eine Überraschung: Jakob Müller stammte gar nicht aus Tarlykowka! Er siedelte im Jahre 1818 aus der Kolonie Dreispitz nach Tarlykowka um. Allerdings tauchen in der Volkszählung dieser Kolonie im Jahre 1798 weder er noch seine Eltern auf. Ohne mich hier in einzelne Details zu vertiefen, präsentiere ich das fertige Ergebnis meiner Nachforschungen.

Am 9 Juni 1766 kam die Witwe Magdalena Müller, 40 Jahre, Bäuerin, evangelisch-lutherisch, mit ihren fünf Kindern Kaspar (21 Jahre), Reinhard (18), Johann Heinrich (16), Jakob (12) und Anna Elisabeth (8) aus Dortmund oder der näheren Umgebung mit dem Schiff „Love and Unity“ in Oranienbaum an. Interessant ist, dass es dieses Schiff geschafft hat, wenn man den Listen des Iwan Kuhlberg Glauben schenken darf, zwei Mal am gleichen Tag und mit demselben Steuermann Fairfax, jedoch mit unterschiedlichen Passagieren, in Russland anzukommen. So trafen die Stafs und Grunes (siehe „Expedition 2008“) mit dem ersten und unsere Müllers mit dem zweiten der beiden Zwillingsschiffe ein.

Ein Jahr später kam die komplette Familie ohne Verluste im Wolgagebiet an und ließ sich in Dreispitz nieder. Bemerkenswert ist, dass sich Magdalena auf ein solch großes Wagnis wie eine Auswanderung eingelassen hatte, obwohl sie noch in Deutschland Witwe geworden war. Ihre Söhne leisteten ihr große Hilfe, denn nur ein Jahr später gab es auf ihrem Hof nicht nur zwei neue Pferde, die vom Saratower Kontora zur Verfügung gestellt worden waren, sondern es tauchten plötzlich auch vier Kühe wie aus dem Nichts auf. Im ersten Jahr waren anderthalb Desjatin (ca. 1,64 Hektar) Land bestellt worden.

Im Jahre 1755 kam Reinhards Sohn Christoph zur Welt, der Name Reinhards Ehefrau ist leider nicht bekannt. Christoph und seine Frau Katharina hatten zusammen mindestens fünf Kinder, von denen das älteste Jakob Wilhelm hieß und am 31.01.1799 geboren wurde. 1818 verstarben Reinhard und sein ältester Sohn Christoph. Im Oktober 1818 verließ der 19-jährige Jakob Wilhelm seine Heimatkolonie und zog nach Tarlykowka, wo er Anna Luise, die Tochter des Georg Simeon Wulf, heiratete. Der weitere Verlauf ist uns bereits bekannt.

Und hier trat Ende Dezember 2012 das zweite Ereignis ein: Als ich in Olga A. Litzenbergers Buch „Die Geschichte der wolgadeutschen Siedlungen“ (B. 1) nachlesen wollte, was dort über die Kolonie Dinkel (Tarlykowka) geschrieben stand, fand ich in dem Buch ein Foto eines wunderbar erhaltenen Grabsteins von Jakob Wilhelm Müller! Das ist wohl so ziemlich das einzige Denkmal dieses Alters (1883) in der wolgadeutschen Region, das noch immer auf seinem ursprünglichen Platz steht. Denken wir nur daran, in welchem Zustand wir den Katharinenstädter Friedhof im Jahre 2008 vorfanden! Was unsere Familie angeht, so ist dies das einzige erhalten gebliebene Grab eines unserer fernen Vorfahren überhaupt. Damit stand außer Frage, dass ich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit dorthin fahren musste!

 

                                                                     Das Bauerngut

Etwa zur gleichen Zeit machte auch die Suche nach dem Bauerngut Fortschritte. Zunächst möchte ich nur kurz daran erinnern, dass wir von der Existenz des Bauernguts von Anfang an wussten. In den „Aufzeichnungen“ lesen wir:

„Bevor Fjodor Jakowlewitsch Müller, der Bruder der Mutter meines Großvaters Alexander, starb (wahrscheinlich im Jahre 1889 oder 1890), teilte er sein Vermögen zwischen seiner Schwester und seiner Ehefrau auf. Erstere bekam 3000 Desjatin Land in der Prärie, was für eine große Familie mit bescheidenen Mitteln ein beispielloses Vermögen darstellte (so bekam zum Beispiel mein Vater Eduard während seiner Schulzeit auf dem Gymnasium in Kasan nur 1 Rubel Taschengeld im Monat). Aufgrund der schlechten Gesundheit meine Großvaters mussten mein Vater und sein älterer Bruder das Gymnasium in Kasan verlassen, um sich der Arbeit auf dem „Gut“ zu widmen (Eduard verließ das 3. Gymnasium in Kasan nach der 6. Klasse im Mai 1890). Ihrem, und vor allem Eduards, Fleiß ist es zu verdanken, dass auf dem Neuland ein großes Bauerngut mit allen Dienstleistungen entstanden, ein großer Garten gepflanzt und ein Teich gegraben worden war. Nach dem Tode des Großvaters, als die Familie bereits in ihrem eigenen Haus in Saratow lebte, forderten die Brüder und Schwestern gegen den Willen meines Vaters den Verkauf des „Gutes“, das mein Vater so sehr geliebt und in das er so viel Arbeit investiert hatte. Schließlich wurde das Anwesen an Tataren verkauft, die dort eine Pferdezüchterei gründeten. Der Erlös aus dem Verkauf wurde untereinander aufgeteilt“.

Es ist bemerkenswert, dass die beiden Themen „Bauernhof“ und „Müllers“ sich so zeitgleich zusammenfügten. Ohne Fjodor Jakowlewitsch Müller, den Wohltäter unserer Familie, hätte es den Bauernhof und vieles andere niemals gegeben. Abgesehen von diesen nicht allzu reichlichen Informationen standen uns noch einige Fotoaufnahmen zur Verfügung, von denen die meisten in der Rubrik „Fotoalbum“ zu sehen sind (siehe Album „Das Bauerngut Rauschenbach“). Zu erkennen ist eine große Anzahl von Gebäuden, die für verschiedene Zwecke bestimmt waren. Gut zu sehen sind außerdem das zentral gelegene Herrenhaus sowie ein Garten und ein Wasserpumpwerk. Das Bauerngut stand in der Prärie und es gab einen oder auch mehrere Teiche, sonstige Anhaltspunkte hatten wir keine. Teiche in der Prärie wurden aber überall dort angelegt, wo sich sesshaftes Leben bildete und ein landwirtschaftlicher Betrieb aufgenommen wurde.

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Anfang Dezember erhielt ich das soeben erst erschienene Buch „Die administrativ-territorialen Veränderungen in der wolgadeutschen Region. 1764-1944.“ von Alexander Spack, dem Gründer der Webseite www.wolgadeutsche.net. In diesem Buch wurden vier Bauerngüter der Rauschenbachs erwähnt, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an verschiedenen Orten existierten. Einer dieser Höfe, der sich im Gemeindebezirk Kamenno-Sarminskaja (Kreis Nikolajewsk) befand, schien unsere Suchkriterien zu erfüllen: Im Jahre 1890 hat es den Hof noch nicht gegeben. Im Jahre 1900 war er bereits da, 1910 war er wieder verschwunden und an seiner Stelle befand sich das Gut eines anderen Besitzers. Über den genauen Standort des Bauernguts gab es allerdings nur wenig Information: Im Ortschaftsverzeichnis des Gouvernements Samara aus dem Jahre 1900, von dem Alexander Spack mir freundlicherweise eine Kopie übersandte, waren als  geographische Orientierungspunkte die Entfernungen zu den Städten Samara und Nikolaev sowie zur nächstgelegenen Bahnstation Ershow angegeben. Als besondere Erkennungszeichen waren die Größe des Grundstücks, die Zahl der Haushalte, außerdem „ein Teich“ und die Zahl von Einwohnern aufgeführt.

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Beflügelt durch meinen Erfolg, überhäufte ich das Forum der Wolgadeutschen (s. http://forum.wolgadeutsche.net/viewtopic.php?f=5&t=2001) mit Nachrichten und Anfragen. Viele reagierten und beteiligten sich bei der Suche. Am meisten tat sich jedoch der Forums-Veteran Wladimir Kakorin hervor, der viele Karten und Satellitenbilder jener Gegend ins Forum stellte, wo sich der vermutete Standort unseres Bauernhofs befand. Leider ließ aber keine Karte und keine Aufnahme eine eindeutige Antwort zu, auch wenn uns dieses Material im Weiteren noch sehr nützlich werden sollte. Hilfe kam schließlich aus Samara. Zuerst lieferte das automatisierte Informationssystem eine Urkunde, in der dokumentiert war, dass das Dorfkollektiv von Malyj Kushum bei den Herren Rauschenbach, Bauer und Hämmerling Land erworben hatte. Bald darauf bekamen wir von der Archivmitarbeiterin Galina Galygina Fotokopien dieses Dokumentes zugeschickt.

Es stellte sich heraus, dass sich die Dorfgemeinschaft von Malyj Kushum im Sommer 1903 an den Samarer Zweig der Bauern-Landesbank mit der Bitte um ein Darlehen in Höhe von 280.000 Rubel gewandt hatte, um bei dem Erben des im August 1901 verstorbenen A. I. Rauschenbach ein 2800 Desjatin umfassendes Grundstück zu erwerben. Mathilda und Eleonora Rauschenbach heirateten Ende des Jahres 1902 Emil Hämmerling und Robert Bauer, womit das Auftauchen dieser Namen erklärt wäre. Im Auftrag des Erben agierte Nikolai Rauschenbach, der älteste Sohn von Alexander und Lydia Rauschenbach. In dem Entwurf der Kaufurkunde werden alle Gebäude aufgezählt, die gemeinsam mit dem Grundstück übertragen werden sollten: 4 Schuppen, ein Ochsenhof, ein Pferdehof, ein Kuhhof, eine Kaserne, ein Lagerraum, eine Schmiede mit dazugehöriger Hütte sowie eine Scheune für Sattelzeug. Andere Einrichtungen, die im Dokument leider nicht erwähnt werden, mussten für 10 Jahre das Eigentum des Verkäufers geblieben sein. Vermerken wir, dass das zentrale Herrenhaus, die Wasserpumpe und vermutlich auch der Garten im Besitz der Rauschenbachs verblieben. Wir wir später erfuhren, betrug die Gesamtfläche des Grundstücks 2801 Desjatin. Auf der nach dem Verkauf verbliebenen Fläche von 1 Desjatin hätten der Garten und alles Übrige immer noch leicht Platz gefunden.

Doch das Geschäft kam nicht zustande. Die Bauern-Landesbank hatte keine Eile, über die Vergabe des Darlehens zu entscheiden, und die Verkäufer wollten nicht lange warten. Am 1. September 1903 nahm Nikolai Alexandrowitsch alle bedeutsamen Dokumente, einschließlich der Grundstückspläne, an sich und ließ uns damit ohne Angaben zur genauen Lage des Hofs zurück. Alle Informationen beschränkten sich auf eine einzige Zeile, in der es heißt, dass sich das Grundstück unweit des Dorfes Dmitriewka (anders Krutez) befindet. Daraufhin stellte der unermüdliche Kakorin eine Karte des Dorfes Dmitriewka, Gemeindebezirk Kamenno-Sarminskaja, aus dem Jahre 1934 ins Forum. Wie in dem bekannten Kinderspiel, waren wir nun schon ganz „heiß“ dran, aber genau ins Ziel getroffen hatten wir noch immer nicht.

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Im Ortschaftsverzeichnis des Gouvernements Samara von 1900 folgen einige Zeilen unterhalb des Guts Rauschenbach die Güter der Stafs und der Adligen Bankowskaja. Die Stafs sind, wie wir wissen, unsere Verwandten. Um das Jahr 1900 bestand auch zwischen uns und den Bankowskijs eine Verwandtschaftsbeziehung, denn Wladimir Rauschenbach und Ekaterina Bankowskaja hatten 1897 geheiratet. Was, wenn die „Nachbarschaft im Ortsverzeichnis“ auch die tatsächliche Nachbarschaft der Betreffenden widerspiegelte? Ich begann, im Zentralen Staatsarchiv Samara zu suchen und fand dabei eine Reihe von Dokumenten zu den genannten Bauerngütern sowie einige erstklassige Karten dieser Grundstücke, die G. Galygina für mich fotografierte und mir zuschickte.

Vor allen Dingen finden wir in der 1890 im Bezirk Nikolaew ausgestellten Bescheinigung über die deutschen Grundbesitzer nebeneinander die Namen Anna Jakowlewna Staf, Christine Jakowlewna Rauschenbach und Fjodor Jakowlewitsch Müller. Die ihnen gehörenden Grundstücke sind alle ähnlich groß (an die 3000 Desjatin). Mit Stand von 1889 sind alle Grundstücke an ein und die gleiche Person und alle zum selben Preis vermietet, nämlich für 8 Rubel/Desjatine pro Jahr. Mit Christine Jakowlewna und Fjodor Jakowlewitsch ist alles klar, aber wer ist Anna Jakowlewna Staf? Nun, das ist meine Ururgroßmutter Johanna Maria, Christines ältere Schwester und die Mutter von Lydia Konstantinowna Rauschenbach. Ihr Vorname hat einen dreifachen Wandel durchgemacht: von Hanna (1826) über Johanna (1834) zu Anna. Ihr Erbe wurde unter ihren Söhnen Konstantin, Alexander, Fjodor und Robert Staf aufgeteilt. Alle diese Namen finden wir auch auf der Karte von 1895. Lassen wir uns durch dieses Durcheinander der Namen aber nicht verwirren, denn so etwas konnte auch in der historischen Heimat unserer Vorfahren vorkommen. Ein Beispiel: In der Aufzeichnung über die Eheschließung von Karl Friedrich Rauschenbachs Eltern ist Karls zukünftige Mutter als Anna Elisabeth vermerkt, während sie fünf Jahre später im Vermerk zu Karl Friedrichs Taufe in der gleichen Nikolaikirche bereits als Johanna Elisabeth erscheint.

Weil es im Ortschaftsverzeichnis von 1890 weder das Gut der Stafs noch das der Rauschenbachs gibt, drängt sich der Schluss auf, dass beide Güter zur gleichen Zeit und höchstwahrscheinlich auch auf die gleiche Weise „entstanden“ sein müssen, nämlich auf (vortodliche oder nachtodliche) Anordnung von Fjodor Jakowlewitsch Miller, dem diese Grundstücke gehörten. Werfen wir einen Blick auf die Karte:

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Laut dieser Karte von 1895 ist Alexander Rauschenbach der südliche Nachbar der Stafs. Diese Karte gibt uns zum ersten Mal einen Wegweiser zu unserem Ziel in die Hand, obwohl die genaue Lage des Bauernguts Staf erst noch konkretisiert werden muss.

Auf einer anderen Karte ist vermerkt, dass dieses Grundstück früher einem Major Grigorowskij gehört hatte. Offensichtlich hatte F. A. Miller das Grundstück von diesem Major erworben. Was das Grundstück der Adligen Bonkowskaja angeht, so stehen die Dinge hier anders. Darja Nikolaevna Bonkowskaja, geb. Rylejewa, hatte das Land durch ein Erbe erhalten. Dieses Anwesen war dem Major und Kavalier A. N. Rylejew (1778 – 1840) im Jahre 1804 geschenkt worden. Folgendes lesen wir über ihn in der Wikipedia:

„Adliger aus der Provinz Kasan. Am 25. Dezember 1796 Eintritt als Kadett in das Leib-Husaren-Regiment. Am 10. September 1798 Beförderung in den Rang eines Kornetten. Beteiligte sich im Jahre 1805 an der Kampagne in Österreich im Rang eines Rittmeisters im gleichen Regiment. Verwundung bei Austerlitz. Am 23. Juli 1806 Verabschiedung in den Ruhestand im Rang eines Oberst. Im Januar 1812 abberufen zum Großfürsten Konstantin Pawlowitsch. Teilnahme an den Kämpfen gegen die Franzosen bei Kobrin, Bjarosa, Pruschany und Brest, wo er verwundet wird. Begibt sich am 2. Dezember 1812 in Behandlung. Nach der Rückkehr in die Armee im Juni 1813 dem Korps von M. S. Woronzow zugeteilt, danach zum Korps des F. F. Wintzingerode abkommandiert. Nimmt an der Schlacht bei Großbeeren und Dennewitz teil, wofür er am 15. September 1813 in den Rang eines Generalmajors befördert wird. Für seinen besonderen Einsatz in der Schlacht von Leipzig mit dem St.-Annen-Orden 2. Klasse und von Blücher persönlich mit dem Roten Alderorden 2. Klasse ausgezeichnet. 1814 Teilnahme an der Blockade bei Sedan sowie an den Schlachten bei Craonne und Laon, wo er von einem Schrapnellgeschoss an der rechten Hand verletzt und anschließend mit einem goldenen Degen mit Diamanten ausgezeichnet wird. Weitere Auszeichnung: St.-Georgs-Orden 3. Klasse. Am 3. Oktober 1829 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand verabschiedet. Lebt die letzten Jahre seine Lebens in Saratow, wo er auch stirbt“. http://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%A0%D1% ... 0%B8%D1%87

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Auf der obigen Karte aus dem Jahre 1899 sehen wir das Anwesen des D. N. Bonkowskij. In unserem Besitz befinden sich auch andere Karten. So ist auf einer Karte von 1887 als Darja Nikolajewnas östlicher Nachbar ein Generalmajor A. D. Stolypin, Vater des herausragenden Staatsmanns P. A. Stolypin, angegeben. Auf einer anderen Karte von 1899 ist als Besitzer dieser Grundstücke aber bereits Alexander Rauschenbach vermerkt. Demzufolge muss F. J. Müller „unsere“ Grundstücke von A. D. Stolypin erworben haben.

Ausgehend von den Plänen der Grundstücke Staf und Bankowskij, erstellte Wladimir Kakorin eine ungefähre Skizze von der Lage dieser Grundstücke und des gesuchten Guts Rauschenbach:

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Die Grundstücke Bankowskij (blau), Rauschenbach (rot) und Staf (grün)

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Alexander Rauschenbachs Grundstück in der Satelliten-Ansicht

Nun mussten wir nur noch herauszufinden, wo der Hof selbst gestanden hatte. 2800 Desjatin sind immerhin knapp über 3000 Hektar. Wolodja sah sich noch einmal die Satellitenbilder durch und wählte die für die Rolle des Guts Rauschenbach in Frage kommenden Kandidaten aus. Jetzt blieb nur noch Eines zu tun: wir mussten selbst kommen und alle Unklarheiten beseitigen.

                                                                  Expedition 2013

Aufgrund familiärer Umstände konnte unsere neuerliche Expedition nicht vor Mai 2013, allerdings auch nicht wesentlich später, stattfinden, so dass uns die Entscheidung relativ einfach fiel. Aus erwähnten Gründen ergaben sich für uns die folgenden Reisedaten: Abreise aus Moskau am 15. Mai, Rückkehr am Morgen des 21.  Mai. Nun mussten wir nur noch die Mitglieder unserer Expedition auswählen, die Ziele und Aufgaben der Expedition definieren und die Route festlegen.

Bei der Auswahl der Mitglieder gab es keine Probleme. Vera und Michail haben mit Begeisterung ihren Wunsch bekräftigt, der wolgadeutschen Region einen Besuch abzustatten. Wladimir Kakorin versprach auch, sich uns anzuschließen, wenn es die Umstände erlauben würden. Er wollte alleine aus Wolschski anreisen, während wir anderen uns ein Auto mieten wollten, sobald wir in Saratow angekommen sein würden. Unsere Aufgabe bestand darin, möglichst viele Orte zu finden und zu besichtigen, die in irgendeiner Beziehung zur Geschichte unserer Familie standen. Die geographischen Ziele lauteten: Saratow, Tarlykowka, Bobrowka, Marx, die Steppe im Gebiet von Dmitriewka, Balakowo.

In groben Zügen hatten wir die folgende Route vor Augen: ein Tag in Saratow, danach Weiterfahrt nach Engels, Übernachtung, von dort weiter südlich nach Tarlykowka und anschließend wieder Richtung Norden nach Marx. Unterwegs nach Marx ein Abstecher nach Bobrowka. Nach Marx Übernachtung irgendwo in der Nähe, am nächsten Morgen Suche nach dem Bauerngut. Noch am selben Tag Weiterfahrt bis Balakowo, dort Übernachtung. Rückkehr nach Saratow auf dem gleichen Weg über Engels.

Damit eine solche Reise nicht Gefahr lief, in einer bloßen Autotour zu enden, mussten wir in der bis zur Abreise verbliebenen Zeit für jeden Punkt unserer Route möglichst viele lokale Ziele finden. In Saratow und Marx mussten wir versuchen, irgendwelche Häuser der Rauschenbachs, und zwar nicht nur der direkt mit uns verwandten, zu finden. In Engels war das Archiv der Wolgadeutschen zu besuchen, in Tarlykowka den Friedhof. Unterwegs konnten wir noch einen kurzen Abstecher nach Bobrowka machen, besondere Ziele schien es dort aber nicht zu geben. Am schwierigsten würde sich die Suche nach dem Bauerngut und der Besuch in Balakowo gestalten, wo einst die Familien von F. J. Miller und A. I. Rauschenbach in direkter Nachbarschaft lebten. Aber sehen wir doch mal an, was bei all dem herauskam.

 

Tag eins. Saratow

Meine Frau und ich sollten mit dem Abendzug aus Moskau abreisen. Nach unserer Ankunft in Saratow wollten wir uns mit Vera, die dort am Tag zuvor aus Nowgorod eintreffen sollte, und mit Michail treffen, der ebenfalls am Vorabend mit dem Zug aus Nizhnij Nowgorod ankommen sollte. Doch buchstäblich am letzten Tag vor der Abreise mussten alle Nowgoroder ihre Fahrtickets aufgrund von Umständen höherer Gewalt wieder abgeben. So wurde die Zahl unserer Expeditionsteilnehmer auf drei reduziert. Darum beschlossen wir, uns bei unseren Fahrten auf der Wiesenseite mit einem Auto, Wolodjas „Kalina“, zu begnügen. In Saratow nahmen meine Frau und ich ein Taxi.

Zuerst besuchten wir den Ortsteil „Strelka“. Vor dem Krieg gab es hier einen deutschen Friedhof, der aus zwei separaten Teilen, einem lutherischen und einem katholischen, bestand. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten Friedrich Miller, Alexander und Lydia Rauschenbach sowie deren Sohn Alexander (+1915) hier ihre letzte Ruhe gefunden. Von dem Friedhof ist heute keine Spur mehr geblieben: er wurde in der Sowjetzeit zerstört und zugebaut. In den Foren des Allrussischen Genealogischen Baumes und auf wolgadeutsche.net las ich, dass man in einigen Hinterhöfen von Privathäusern, die heute an der Stelle des Friedhofs stehen, erhaltene Fragmente von Grabsteinen finden kann, die von den Hausbesitzern für private häusliche Zwecke genutzt werden. Die Wirklichkeit entsprach ganz dem, was ich gelesen hatte: keinerlei Spuren, gar nichts, was man hätte fotografieren können.

Anschließend fuhren wir weiter zum Woskresenskij-Friedhof, der sich ganz in der Nähe befindet. Hier konnten wir seit unserer Expedition 2008 nichts Neues bemerken. Das bescheidene Denkmal für die Opfer des kommunistischen Terrors sieht heute noch genauso aus wie vor fünf Jahren.

Wir begannen unsere Streifzüge durch das Zentrum in der Gogol-Straße. Das Haus № 97, das wir 2008 fotografiert hatten, befindet sich in einem abbruchreifen Zustand.

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In der Sowetskaja-Straße (ehemalige Konstantinowskaja) fotografierten wir das wunderschön erhaltene Gebäude der Handelsschule, in die mein Vater gegangen ist:

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Valentin Rauschenbach in der Uniform der Handelsschule. Saratow, 1916 (Postkarte).

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Brief auf der Rückseite der Postkarte: «Kämpfende Armee. Hochwohlgeborenem Herrn Sekondeleutnant Eduard Alexandrowitsch Rauschenbach. 16. September 1916. Lieber Papa! Ich schicke Dir zum Andenken mein Foto. Das Wetter bei uns ist schlimm. Küsse Dich, Valja».

Am verlockendsten für uns war es, Häuser zu finden, die irgendwann einmal unseren Vorfahren gehört hatten. Wie viele solche Häuser es in Saratow gab, ist noch immer nicht ganz klar. Indirekte Hinweise (Gedenkbücher und Sonstiges) lassen vermuten, dass sich 1909 in der Zarewskaja-Straße (heute Pugatschowskaja) ein Haus eines gewissen Rauschenbach befunden hat. Für das Jahr 1910 ist ein weiteres Haus bezeugt, gelegen in der Ssobornaja-Straße, zwischen den Straßen B. Sergijewskaja und M. Sergijewskaja. Wie aus E. A. Rauschenbachs notarieller Bescheinigung über den Besuch des Gymnasiums hervorgeht, lebte mein Urgroßvater A. I. Rauschenbach im Oktober 1893 „in Saratow im Hause seiner Frau“. Aus den „Aufzeichnungen“ meines Vaters wissen wir, dass A. I. Rauschenbachs Familie in einem eigenen Haus lebte. Die gleiche Quelle erwähnt auch ein „großes gastfreundliches Haus samt kleinem Garten mit blühenden Rosen und einem Springbrunnen”, in dem L. K. Rauschenbach vor der Revolution lebte. Wie sich meine Tante erinnerte, war es ein einstöckiges Haus mit sechs Zimmern und einem Garten. Lydia Konstantinowna lebte dort mit ihrem Sohn Alexander, der älteren Tochter Olga und ihrem Sohn Schura (Alexander). Das Haus stand in der M. Sergijewskaja-Straße, nicht weit vom Ulrichs-Gymnasium. Schließlich fanden wir noch im Jahre 2008 das Haus an der Straßenecke Konstantinowskaja/Prowiantskaja, das vor der Revolution den drei Brüdern Eduard, Wladimir und Viktor gehört hatte.

Als erstes machten wir eine Fahrt durch die Ssobornaja-Straße, wo wir aufs Geratewohl alte Häuser fotografierten, was sich später als sehr gut erweisen sollte. Später, nachdem wir wieder zu Hause angekommen waren, sandte uns der Heimatforscher und Historiker Wjatscheslaw Iwanowitsch Dawydow Archivdokumente zu, aus denen hervorging, dass sich das Haus № 3 in der Ssobornaja-Straße bis zum Jahre 1910 im Besitz von Alexander Alexandrowitsch Rauschenbach (1878-1915) befunden hat. Zum Glück ist dieses rote Backstein-Haus, oder besser gesagt die zwei miteinander verbundenen Gebäude gleichen architektonischen Stils, bis heute erhalten geblieben:

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Zu den Fotos, die Vera bewahrt hat, gehört auch dieses:

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Die Inschrift auf der Rückseite besagt: „Saratow, im roten Haus“. Auf dem Foto sehen wir Alexander (mit Buch), neben ihm Eleonora; in der ersten Reihe: Wladimir, Michail und Pavel. Dieses Foto ist vermutlich in dem Haus in der Ssobornaja-Straße entstanden.

Außer dem roten gab es noch ein weißes Haus. Hier eine Aufnahme aus dem Jahre 1901. Die Inschrift auf der Rückseite besagt: „Saratow. Kabinett im weißen Haus. Pascha, Koka, Kasja, Mischa“:

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Von links nach rechts: Pavel, Concordia, Ekaterina (Wladimirs Ehefrau), Michail

Die Fotografie zeigt mehrere junge Leute im Arbeitszimmer des Vaters. Der Spiegel an der Wand (oder ist es ein Porträt?) ist verhängt. Warum haben sie sich hier versammelt? Das Datum auf dem Wandkalender ist nicht zu erkennen, der Name der Zeitung in Kasjas Händen auch nicht. Vielleicht ist es ja der „Saratowskij Listok“ vom 29. August mit der Todesanzeige von Alexander Johannowitsch Rauschenbach, dem Eigentümer dieses Arbeitszimmer, der drei Tage zuvor verstorben war.

Laut Informationen, die ich von Nadeshda Gusewa im Forum Allrussischer Genealogischer Baum erhalten hatte und die später von W. I. Dawydow bestätigt wurden, standen Anfang des 20. Jahrhunderts in der M.-Sergijewskaja-Straße zwei Häuser direkt nebeneinander, von denen eines Lydia Konstantinowna Rauschenbach und das andere dem bekannten Saratower Arzt Fjodor Karlowitsch Rauschenbach gehörte. Beide Häuser sind bis heute erhalten. Lydia Konstantinownas Haus befindet sich heute in der Mitschurina-Straße und hat die Nummer 77, Fjodor Karlowitschs Haus hat die Nummer 79.

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Mitschurina-Straße 79. Das Haus F. K. Rauschenbachs.

Und hier sein Nachbar:

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Mitschurina-Straße 77. Das Haus L. K. Rauschenbachs.  

Es ist bekannt, dass das Grundstück, auf dem Haus № 77 steht, am 20.06.1892 von L. K. Rauschenbach für 10.000 Silberrubel erworben wurde. Die Breite des Grundstücks entlang der Straße, einschließlich des Gartens, betrug zu beiden Seiten je 20 Klafter, die Länge mit Zugang zum Hof maß 35 Klafter (es erstreckte sich also über die gesamte Breite des Viertels, mit Zugang zur Krapiwnaja-Straße). Das in Richtung Alexandrowskaja-Straße angrenzende Hausgrundstück gehörte dem Kaufmann W. W. Nedonoskow. Dieser verkaufte schließlich einen Teil seines Hauses, den 1899 Doktor F. K. Rauschenbach bezog (den zwischen „unserem“ Haus und dem Eckhaus Nedonoskows gelegenen Teil).

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Von links nach rechts: die Häuser von L. K- Rauschenbach, F. K. Rauschenbach, W. W. Nedonoskow

Anhand der Dokumente, die W. I. Dawydow uns freundlicherweise übersandte, lässt sich die Existenz des „Hausgrundstücks Rauschenbach“ an diesem Ort bis Mitte des Jahres 1917 belegen. Von welchem Rauschenbach die Rede ist, ist nicht bekannt. Fjodor Karlowitsch starb kinderlos im Jahre 1910; wer sein Erbe war, weiß ich nicht. In jedem Fall können wir davon ausgehen, dass Alexander Iwanowitschs Familie im Haus № 77 lebte, bis die erwachsenen Kinder ihre eigenen Familien gründeten. Einige Wohnungen wurden vermietet. Warum das Familienoberhaupt nicht von Anfang an der Hauseigentümer war, sondern seine Frau, ist unklar.

Eine andere Frage, die offen bleibt, ist die nach dem Standort des Hauses, in dem Lydia Konstantinowna vor der Revolution lebte. Erhalten geblieben ist nur ein einziges Foto, auf dem Lydia Konstantinowna (in der Mitte des Bildes) mit zwei Gästen im Garten am Haus zu sehen ist:

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Das Haus sieht einstöckig aus, wie es von Tante Tanja beschrieben wurde. In der Gegend des Ulrich-Gymnasiums konnten wir nichts finden, das passen würde. Das Schulgebäude des Gymnasiums gibt es übrigens auch nicht mehr. Das Mitschurina-Haus mit der Nummer 77 befindet sich zwar in der gleichen Straße, aber dieses Haus ist nicht einstöckig. Oder ist es vielleicht doch das richtige Haus?

Damit endete der Saratower Teil unserer Suche und wir machten uns auf zum anderen Ufer der Wolga.

 

Tag zwei. Von Engels nach Marx.

Nachdem wir in Engels übernachtet hatten, trafen wir uns am nächsten Morgen mit Wladimir Kakorin. Wir machten einen Abstecher zum Archiv der Wolgadeutschen, wo wir uns mit Elisabeth Moissejewna Jerina und ihren Kollegen trafen. Es war eine Freude, die Menschen wiederzusehen, denen wir so viel zu verdanken haben und die auch heute noch bereitwillig auf alle unsere Anfragen nach Dokumenten zur Geschichte unserer Familie reagieren. Es gelang uns, einige Unterlagen zu Katharinenstadt aus dem frühen 20. Jahrhundert durchzusehen und einige Informationen über unsere entfernten Verwandten aus Baronsk zu präzisieren.

Tarlykowka

Tarlykowka liegt ungefähr 40 Kilometer südlich von Engels. In dem Dorf stehen bis heute zahlreiche alte deutsche Häuser, von denen viele mit Ziegelstein verkleidet sind. Das herrliche Kirchengebäude wurde in der Sowjetzeit zerstört. An einen Wiederaufbau denkt keiner, denn die heutige Bevölkerung von Tarlykowka besteht hauptsächlich aus Kasachen und ist mehrheitlich muslimisch. Vor kurzem wurde eine Moschee errichtet.

Unser Interesse galt jedoch dem Friedhof, wo Jakob Müller und unsere Vorfahren aus der Linie Wulf liegen. Der Friedhof ist nicht groß, die heutigen Dorfbewohner bestatten ihre Angehörigen meist an einem anderen Ort. Es gibt alte Grabsteine und Reste zerstörter alter Gräber.

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Und hier das Ziel unserer Reise – das Grab von Jakob Wilhelm Müller. Das Denkmal aus schwarzem Marmor ist wunderbar erhalten und steht über der unberührten Gruft. Damit aber nicht genug: das Grab ist mit einer Umzäunung versehen, die ganz offensichtlich nicht erst vor hundert Jahren gestrichen wurde.

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Foto. W. Kakorin

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Besonders berührt haben uns die Blumen, die irgendjemand hierher zu bringen scheint:

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O. A. Litzenberger zitiert in seinem Buch eine Legende von diesem Denkmal, das sich selbst bewacht. Als einige Leute versuchen, ihn mithilfe eines Krans zu entwenden, fällt der Ausleger des Krans auf sie herab und tötet einen der Räuber. Und tatsächlich sind auf dem Denkmal Spuren von Einschlägen zu sehen, die bezeugen, dass jemand versucht hat, den Grabstein umzustürzen oder zu zerstören.

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Das Denkmal wurde in Rybinsk hergestellt und über die Wolga zu seinem Standort befördert. Aufgestellt wurde es ohne Zweifel von Fjodor Jakowlewitsch Müller, und es kann nur gerätselt werden, ob in diesem Grab auch Jakobs Ehefrau Anna Luisa, die ein halbes Jahrhundert früher verstarb, bestattet wurde. Es sind keine weiteren Namen darauf zu sehen.

Über Jakob Müller und sein Leben wissen wir so gut wie gar nichts. Wir haben nur einige Aktenüberschriften, die aus der Saratower Kontor stammen und sich auf Jakob Müller beziehen. Die Akten selbst wurden längst vernichtet:

- Akte betreffend die Übersiedlung des Kolonisten Müller aus der Kolonie Dreispitz nach Tarlykowka, 21.10.1818.

- Akte betreffend den Kauf eines Floßes durch den Kolonisten der Kolonie Tarlykowka Jakob Müller, 18.08.1824.

- Akte betreffend den Einzug einer Geldschuld vom Kolonisten Jakob Spät (Kolonie Golyj Karamysch) durch den Kolonisten Jakob Müller (Kolonie Tarlykowka), 24.09.1843.

Aus diesen spärlichen Zeilen geht hervor, dass Jakob Müller ein aktiver, unternehmungslustiger Mann war, der sich nicht auf seine Tätigkeit als Bauer beschränkte. „Das kommentierte Aktenverzeichnis des Saratower Fürsorgekontors für ausländische Ansiedler“, in dem wir diese Überschriften fanden, bewahrt die Erinnerung an nur wenige Hundert von vielen Tausenden Kolonisten, die die wolgadeutsche Region vom späten 18. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewohnten. Die Menschen, die ins Blickfeld der Behörden gerieten, stachen alle auf unterschiedliche Weise aus der Masse heraus. Ein Teil der Akten berichtet von allerlei Unruhen, Ausschreitungen und sogar Verbrechen, die das Eingreifen der Behörden erforderlich machten. Dann gibt es auch administrative Fälle, die über die Vergabe einer Heiratserlaubnis oder einer Genehmigung zur Übersiedlung aus einer Kolonie in eine andere entschieden usw. usf. Endlich gibt es auch Fälle, die Zeugnis von der hauswirtschaftlichen Tätigkeit der Kolonisten ablegen; wie wir sehen, konnte man noch nicht einmal ein Floß kaufen, ohne die Aufmerksamkeit der Behörden zu erregen.

Vorerst wissen wir aber nur wenig über seinen Sohn Friedrich, obwohl dessen Aktivitäten weit über die Grenzen der Kolonien hinaus reichten. Er erarbeitete sich ein Vermögen von mindestens einigen Hunderttausend. Was ist noch von ihm geblieben? Seine guten Werke, z.B. das Denkmal, das er über dem Grab seines Vaters errichten ließ, oder das Erbe, das er seinen vermögenslosen Schwestern hinterließ.

Folgendes Gedicht wurde auf Fjodor Jakowlewitschs Anordnung in den Grabstein aus Marmor gemeißelt:

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Es ist genug!

Mein matter Sinn

Sehnt sich dahin,

Wo meine Väter schlafen.

Am Grabe hab’ ich

Recht und Fug.

Es ist genug! Ich such den Freiheitshafen.

Zeilen 1-4 und 7 sind absolut identisch mit der ersten Strophe des „Sterbeliedes“ von Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig-Wolfenbüttel (1633-1714). Die restlichen drei Zeilen weichen ab, doch der Sinn bleibt völlig gleich.

Gelten diese Zeilen wirklich nur der Erinnerung des Vaters? Dem Sohn blieben zum damaligen Zeitpunkt nur sechs oder sieben Jahre zu leben.

Wir verließen Tarlykowka mit einem Gefühl stiller Freude und Dankbarkeit. Wir hatten die Gelegenheit bekommen, ein materielles Zeugnis unserer Familiengeschichte zu berühren und uns vor der Asche unserer Vorfahren zu verneigen. Und wir danken jenen unbekannten Menschen, die uns diese Möglichkeit gegeben haben, indem sie das Grab eines ihnen unbekannten Menschen bewahrt haben.

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Einmündung des Flusses Tarlyk

 

Bobrowka

Wir machten eine Kehrtwendung um 180 Grad und fuhren Richtung Norden. Unsere nächste wichtige Station war Marx, aber wir hielten unterwegs auch in Bobrowka – ein kleiner Umweg für uns, aber ein bemerkenswerter Ort für die russischen Rauschenbachs. Im Vergleich zu 2008 konnten wir außer dem Friedhof nichts Neues entdecken: Wolodja Kakorin führte uns zum modernen Friedhof von Bobrowka; er vermutet, dass auch der Friedhof Niedermonjou zumindest teilweise innerhalb seiner Grenzen liegt. Hier fand er einige deutsche Gräber aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Ich beschränkte mich damit, dass ich den Deckel meines Kameraobjektivs auf dem Friedhof verlor.

 

Marx

Um 1860 verließen unsere direkten Vorfahren Katharinenstadt (heute aufgrund eines Missverständnisses als Marx bezeichnet). Alle anderen Rauschenbachs, also die Familien der vier Brüder meines Ururgroßvaters Johann Ludwig, blieben aber damals in Katherinenstadt. Der Großteil unserer Verwandten lebte dort bis zur Revolution.

Nach der Revolution lebten Eduard und Nina Rauschenbach zusammen mit ihrem Sohn Valentin (meinem Vater) und Tante Tanja drei Jahre in Baronsk. Ungefähr zur gleichen Zeit lebte dort die Familie von Viktor Jakowlewitsch, dem Vater von Boris Viktorowitsch Rauschenbach. Mehr als 60 Jahre später erinnerten sich mein Vater und Boris Viktorowitsch an Baronsk und ihre gemeinsamen Bekannten. Sie selbst kannten sich damals aber nicht, was auch nicht verwunderlich ist, da der künftige Akademiker zum damaligen Zeitpunkt gerade mal 5 Jahre alt war, mein Vater aber schon ganze 13.

Mein Vater erinnert sich: „1918-1921. Marxstadt, früher Baronsk, Katharinenstadt: Mobilisierung des Vaters in die Armee der Wolgadeutschen Republik und unsere Abfahrt auf einem Frachter... In der deutschen autonomen Republik angekommen, kannte ich dort 5 Familien Rauschenbach: die vermögenden Nikolai Fjodorowitsch und Andrei Fjodorowitsch; eine Familie mit meinen Altersgenossen Eugen und Tolja und deren Mutter Frieda Petrowna; eine andere Familie mit den Kindern Edgar und Wanda. Aus der Mittelklasse die Familie des Trompeters Rauschenbach vom Stadtorchester mit seiner einzigen Tochter Emma. Außer diesen mir bekannten Rauschenbachs mussten noch die zahlreichen Nachkommen des J. J. Rauschenbach (7 Söhne) und noch viele andere „Bachs“ dort leben. Sie waren alle älter als ich… Das Leben war bäuerlich: Gärten, Ziegen, Hühner, Schweine. Freundschaft mit Lilia Seifert, Dagmar und Martha Kraft, Fritz Rauschenbach und anderen. Wir sind oft mit dem Vater zum Jagen in die Prärie gegangen, dort habe ich auch gelernt, die Natur zu lieben und zu verehren. Es war ein mühsames und hungriges Leben. Weil ich irgendetwas tun wollte, um meiner Familie zu helfen, kletterte ich im Frühling 1921 auf eine während des Eistreibens ans Ufer gebundene Barge, die ein Teerladung enthielt (Teer wurde mit den Kolonisten gegen Butter getauscht), und bemerkte nicht, wie die Barge abtrieb. Am späten Abend rettete mich mein Vater, der mit einer Feuerwehrmannschaft ans Ufer geritten kam und mich mithilfe von Brettern, Leitern und Seilen aus meinem Eisgefängnis befreite. Ach, wie viel haben wir in dieser Zeit erlebt! Es war schrecklich, zu sehen, wie die Menschen 1921 auf den Straßen verhungerten, all die furchtbaren Leiden der Kinder, Jugendlichen und Alten. Wir konnten nichts tun, um ihnen zu helfen. Sie krochen herum und aßen Gras und starben auf der Stelle“.

Wir wissen nicht, wer alles von unseren Katharinenstädter Verwandten in diesen schrecklichen Jahren umkam, aber selbst nach den revolutionären Unruhen lebten dort im Jahre 1923 fünf Familien Rauschenbach, und zwar alle in der gleichen Ekatherinen-Straße (heute „Karl-Marx-Straße“). Nach 1941 gab es dort natürlich niemanden mehr.

Wir machten einen Spaziergang entlang der ehemaligen Ekatherinen-Straße und fotografierten willkürlich alte Häuser. Vielleicht werden wir ja eines Tages erfahren, ob sich darunter auch „unsere“ Häuser befinden.

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Eines dieser Häuser ist übrigens bekannt. B. A. Blochin, unser entfernter Verwandter aus der Linie Rauschenbach-Feidel (siehe Rubrik BibliothekNachkommen von Maria Emilia Rauschenbach) und gebürtiger Marxstädter meint, dass das Eckhaus in der Ekatherinen-Straße einst seinen Vorfahren aus der Linie der Rauschenbachs gehörte; neben dem Haus soll sich auch ihnen gehörendes Geschäft befunden haben. Das Haus brannte vor dem Krieg, doch die Wände aus Ziegelstein blieben erhalten. Das Gebäude wurde wiedererrichtet und das ursprüngliche Aussehen blieb weitgehend erhalten:

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Nach der Revolution befand sich darin eine Schule (Quelle: wolgadeutsche.net). Auch heute ist eine Bildungseinrichtung in dem Gebäude untergebracht.

Es ist nicht schwer, zu „ermitteln“, welchen Rauschenbachs das Haus gehörte. Laut Stammbaum, der uns von Alexander Eberhardt zur Verfügung gestellt wurde und der bis zu Maria Emilia Rauschenbach zurückgeht, war Boris Alexandrowitsch Blochins Großvater Johann Heinrich Rauschenbach (1839-1906), der jüngste Bruder meines Ururgroßvaters Johann Ludwig. Ihm gehörte auch dieses Haus. Der Wert des Hauses wurde nach erfolgtem Erbe durch Johann Heinrich auf 14500 Rubel geschätzt – eine nicht nur für Katharinenstadt solide Summe. Zum Vergleich: F. K. Rauschenbachs Haus in Saratow wurde einige Jahre zuvor für 12000 Rubel verpfändet. Johann Heinrich vermachte sein Haus an seine drei Söhne Karl, David und Oskar und verpflichtete sie, für den Unterhalt ihrer verwitweten Mutter sowie der drei unverheirateten Schwestern zu sorgen (seinen anderen Kindern hinterließ er Geld). Zum Erbe gehörten außerdem vier Getreidescheunen mit etwa 500 Tonnen Weizen, zwei Obstgärten sowie ein Grundstück – alles zusammen hatte einen Wert von etwa 50000 Rubel. Amüsante Randnotiz: die Erben mussten den Beweis erbringen, dass ihr Vater, der gleichzeitig als Andrei Jakowlewitsch, Heinrich Jakowlewitsch und Johann Heinrich Rauschenbach bekannt war, ein und dieselbe Person war, und nicht drei verschiedene Menschen:

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Auch ich wurde einmal mit diesem Problem konfrontiert, als ich mit Inga Rauschenbach aus Nowosibirsk und Inga Rauschenbach aus München zu klären versuchte, wessen Sohn ihr Vorfahre Oskar Andrejewitsch Rauschenbach war.

Nach dem Besuch des Heimatkundemuseums (die Stühle der Rauschenbachs sind leider immer noch nicht aufgetaucht) machten wir uns auf den Weg zum Friedhof. Aus meiner Sicht hat sich hier nichts verändert, außer dass jetzt vielleicht weniger Müll in den verwüsteten Grüften liegt. In einer kürzlich ausgestrahlten TV-Sendung mit dem Namen „Sei stolz, Saratow!“ wurde gezeigt, wie Kinder ehemaliger Saratower Kolonisten extra aus Sibirien und anderen Orten angereist kommen, um auf freiwilliger Basis wenigstens einen Teil des Mülls aus den Grüften ihrer Vorfahren zu beseitigen (http://www.youtube.com/watch?v=ywkIBfAU-UY). Sei stolz, Saratow, sei stolz, Marx… Aber es gibt noch immer eine Menge zu tun:

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Zum Glück hatten wir Erfolg: wir fanden drei umgestürzte Grabsteine mit gut lesbaren Namensinschriften. Zuerst sahen wir den Grabstein von Alexander Feidel (1834-1898),

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danach den Grabstein von Johann Karl Rauschenbach (1829-1906)

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und seiner Frau Anna Elisabeth Rauschenbach, geb. Seifert (1833-1902):

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Die Fotografien dieser Grabsteine waren auch früher schon auf www.wolgadeutsche.net zu sehen, aber die Denkmäler selbst konnte ich im Jahr 2008 noch nicht finden. Sie liegen nahe beieinander, und auch das Ziegelsteingewölbe der Krypta ist hier zu sehen:

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Johann Karl und seine Frau hatten sieben Kinder (siehe „Stammbaum“). Einer ihrer Söhne war Doktor Fjodor Karlowitsch aus Saratow. Ihre Tochter Julia, die mit Karl Wilhelm Müller aus der Kolonie Warenburg verheiratet war, war die Urgroßmutter von Vera Beljakowa-Müller (1943-2010), mit der wir 1998 unsere gemeinsame Suche nach unseren Vorfahren begannen. 

Da wir in Marx kein Hotel finden konnten, übernachteten wir in einem Straßenmotel unweit der ehemaligen Kolonie Orlowskoje.

 

Tag drei. Sorkino. Die Suche nach dem Bauerngut Rauschenbach. Balakowo

Am Morgen nahmen wir Kurs Richtung Norden. Unterwegs machten wir einen kleinen Umweg über die ehemalige Kolonie Zürich (heute Sorkino), die Wolodja uns zeigte. Dort steht die bemerkenswerte Ruine der ehemaligen evangelischen Kirche Jesu Christi,  welche sehr an die Ruine des Klosters von Oybin erinnert, die Kunstliebhaber von den Bildern Caspar David Friedrichs kennen dürften:

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Im Sommer dieses Jahres begannen die Arbeiten zum Wiederaufbau des Kirchengebäudes, wobei der Initiator und Hauptsponsor dieses Projektes ein Nachkomme deutscher Kolonisten ist, dessen Vorfahren in Zürich lebten. Bleibt ihm nur viel Glück zu wünschen!

 

Auf der Suche nach dem Bauerngut Rauschenbach

Anschließend begaben wir uns auf die Suche nach dem Bauernhof. Zeit hatten wir nicht viel, denn am Abend wurden wir in Balakowo erwartet. Im Falle eines Misserfolgs wollten wir unsere Suche darum am nächsten Tag auf dem Rückweg fortsetzen. Wolodja Kakorin hatte sich sehr gründlich auf die Reise vorbereitet und Karten mit Satellitenaufnahmen in sein Navigationssystem geladen. Alle diese Bilder ließen nur einen Schluss zu: auf der letzten Etappe unserer Reise würden wir direkt durch die Steppe fahren müssen, denn Straßen hatte für uns niemand gelegt.

Zuerst fuhren wir über eine schlecht asphaltierte Fahrbahn in Richtung Balakowo. Kurz vor Balakowo drehten wir nach Südosten ab. Der schlechte Asphalt wurde nun durch grauenhaften ersetzt. Bald kam uns der Einfall, von der „harten Oberfläche“ auf den parallel verlaufenden Feldweg abzufahren, wodurch die Fahrt wesentlich angenehmer wurde. Wolodja raste über den Landweg genauso schnell wie über die Autobahn; gut, dass wir auf keine tiefen Schlaglöcher stießen. Einige Zeit später kamen wir ins Grübeln: die Straße, die auf den Satellitenbildern zu sehen war, war hier nirgends auszumachen. Nachdem wir hier und dort gesucht hatten, stießen wir auf eine kaum sichtbare Fahrspur. Es war nicht einmal eine richtige Fahrspur, sondern vielmehr Spuren im Gras: irgendjemand war irgendwann hier vorbeigefahren, aber ganz gewiss nicht in dieser Woche und, wie es scheint, auch nicht in diesem Monat. Wolodja erklärte, dass diese Spuren mit den Koordinaten unserer kosmischen Aufklärung übereinstimmten, also fuhren wir, ohne die Geschwindigkeit zu verlangsamen, über das Gras weiter. Als wir am Horizont eine Gruppe alter Bäume erblickten, verließen wir die „Fahrbahn“ und fuhren direkt auf die Bäume zu. Vor uns lag unser erstes Ziel –  die verwahrloste Siedlung Krasnaja Gorka (dt. „Roter Hügel“).

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Fragment einer Karte von 1954.

Was wir dann sahen, ließ unsere Herzen schneller schlagen: Ein teilweise überwucherter, aber doch recht großer Teich, der einst in einer natürlichen Vertiefung mit Hang nach Südosten künstlich angelegt worden war. Ein oberer und ein unterer Damm begrenzten den Teich von zwei Seiten. Auf und neben den Dämmen wachsen alte Weiden, die meisten sehen aus wie Baumskelette, keiner weiß, wie lange sie hier schon stehen. Es war, als wären hundert Jahre alte Fotos zu neuem Leben erwacht, so sehr ähnelte dieser Anblick den Fotografien von Wladimir Alexandrowitsch Rauschenbach:

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Die urtümliche Stille wurde durch schreiende Krähen gestört – entweder weil sie die Nachkommen der ehemaligen Gutsbesitzer begrüßen wollten oder weil sie sich durch ihr Eindringen gestört fühlten.

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Als wir uns dem Damm genähert hatten, stürzte eine der Weiden direkt vor unseren Augen nieder, als hätte sie all die Zeit nur auf diese Stunde gewartet. Rundum nichts als menschenleere Steppe, nur am Horizont war das Dorf Dmitriewka zu sehen, sonst nichts und niemand. Inmitten dieser Wüste erweckte der „Rote Hügel“, unser gesuchtes Gut Rauschenbach, den Eindruck einer fruchtbaren Oase.

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Wir streiften herum, verglichen die Gegend mit unseren mitgebrachten Ausdrucken alter Fotografien und machten von allen Seiten Fotos.

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Foto: W. Kakorin

Es sind keinerlei Gebäude erhalten, zu sehen sind lediglich kleinere Hügelerhebungen, auf denen hier und da verschiedene Artefakte zu finden sind – gebrochene rote Ziegel, Bruchstücke von Glas- oder Porzellangeschirr, einige Eisenteile. Spurensucher Kakorin fand sogar ein Hufeisen und einen Kerosin-Herd.

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Erstaunlich: noch vor hundert Jahren brodelte hier das Leben, der Boden wurde gepflügt, die Weiden waren voller Vieh, an den Hof grenzten Obst- und Gemüsegärten, Vögel wurden gezüchtet. Die Bauern hatten nicht genügend Land und versuchten mit allen Mitteln an Grund zu kommen, entweder mieteten sie das Land, kauften es mit vereinten Mitteln aller Landbewohner oder nahmen ein Darlehen bei der Bauern-Landesbank auf. Den lokalen Grundbesitzern brachte der Boden gutes Geld, auch wenn sie gar nicht selbst vorhatten, landwirtschaftlich aktiv zu werden. Laut Daten von 1890 wurde das Grundstück, auf dem das Gut der Rauschenbachs stand, zu einem Preis von 8 Rubel pro Desjatine vermietet. Die Gesamtmiete betrug 22400 Rubel im Jahr, also 1867 Rubel im Monat. Das waren nach dem Stand von 1910 mehr als 20 Monatsgehälter eines  Landarztes oder eines Lehrers der gymnasialen Oberstufe, und nach dem Stand von 1890 wahrscheinlich anderthalb mal mehr. Und was ist heute? Nichts als öde Steppe…

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Blick von Norden auf den Teich № 3

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Blick vom Damm № 3 nach Norden, in der Ferne ist Damm № 2 zu sehen

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Blick von Westen auf Teich № 3

Sehen wir uns mal an, was heute noch vorhanden ist. Wir sehen drei Dämme, die eine Kaskade aus drei oder vier Teichen bilden. Der oberste der Dämme, wenn es ihn überhaupt je gegeben hat, ist fast spurlos verschwunden:

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Blick nach Norden vom Damm № 1

Unterhalb (südlich) des oberen Teiches ist das ausgetrocknete Bett des Teiches № 2 zu sehen, der von Norden durch den Damm № 1 begrenzt ist:

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Blick nach Norden vom Damm № 2 

Teich № 2 ist flächenmäßig etwa doppelt so klein wie Teich № 3. Das stimmt völlig mit der Karte von 1954 überein, wirft nun aber eine andere Frage auf, über die wir uns den Kopf zerbrechen müssen: welche konkreten Teiche und Dämme sind es, die auf diesen oder jenen alten Aufnahmen zu sehen sind? Wir hatten eigentlich gedacht, dass es an diesem Ort nur einen Teich gegeben hat, der durch einen Damm vom Trockental abgegrenzt wurde… Den Weiher, der im Vordergrund dieser Panoramaaufnahme vom frühen 20. Jahrhundert zu sehen ist (siehe Fotoalbum), nicht mitgerechnet:

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Blick auf den Bauernhof von Südwesten

In den Talsenke unterhalb des Teichs № 3 konnte sich zur gegebenen Jahreszeit ebenfalls Wasser befunden haben, aber auch das ist nur eine Vermutung.

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Blick vom Damm № 3 nach Süden  

Die beiden Dämme, die Teich № 3 begrenzt haben, sind heute in der Mitte abgegangen, wodurch Teich № 2 vollständig seicht geworden ist. Vom dritten Teich kommend, fließt ein kleiner Bach in die Talsenke (ehemals Teich № 4). Offenbar befindet sich am Boden dieses Teichs eine Quelle. In der Nähe der Teiche sind kleinere Längsvertiefungen im Boden zu erkennen, die zu den Teichen führen und eindeutig künstlichen Ursprungs sind – eine Art Kanäle, die zu einem uns bisher unverständlichen Zweck gegraben worden sind. Vielleicht wurde auf diese Weise überschüssiges Wasser während der Frühjahrsflut abgeleitet? An manchen Stellen dieser Bodenvertiefungen liegen einige recht große Steinbrocken, bei denen es sich teilweise um Reste ehemaligen Ziegel-Mauerwerks handelt, die auf der Außenseite mit Zement bestrichen sind. Wer könnte mir erklären, was das zu bedeuten hat?

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Uns blieb zu wenig Zeit, um die Topographie des Gutes mit seinen Dutzenden Anbauten zu erkunden. Die Sonne brannte, wir waren sehr müde, und vor uns lag noch der Weg nach Balakowo. Aber unser wichtigstes Ziel hatten wir zweifelsohne erreicht, das Gut Rauschenbach war gefunden. Aufgabe unserer nächsten Expeditionen, falls es dazu kommen sollte, wird sein, den Plan des Gutes hinreichend genau zu rekonstruieren. Kakorins Rekonstruktionsvorschlag lädt alle Interessierten zur Diskussion ein. Das letzte Wort bleibt den Archäologen überlassen (Scherz):

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Teiche (blau) und Dämme (rot)

 

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Anwesen (rot) und Wasserpumpwerk (blau)

Ich möchte hinzufügen, dass wir – mehr um unser Gewissen zu beruhigen – noch einen anderen Ort besuchten, den wir von vornherein als ein mögliches Hauptziel ins Auge gefasst hatten: ein Feldlager, das etwa anderthalb Kilometer vom soeben entdeckten Gut liegt:

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Das, was wir dort sahen, hat uns in unserer Annahme nur bekräftigt: unser erster Eindruck vom „Roten Hügel“ war richtig, das Gut der Rauschenbachs befand sich genau hier: N 51º 38,022'; E 47º 52,152'.

 

Balakowo

Unsere Vorfahren Christina Rauschenbach und die Familie ihres Sohnes Alexander lebten in den Jahren 1860-1890 in Balakowo. Danach zogen sie nach Saratow. In Balakowo hatten sie ein großes Haus mit Garten (ein Geschenk des Kaufmanns Zvorykin an Alexander Iwanowitsch für seinen treuen Dienst). Mein Vater sah dieses Haus in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als er sich dienstlich in Balakowo aufhielt. Aus Archivdokumenten wissen wir, dass sich die Grundstücke von Alexander und seinem Onkel Fjodor Müller im 17. Bezirk von Balakowo befanden. Leider ließ sich der Plan des 17. Bezirks im Zentralen Staatsarchiv von Samara bislang nicht auffinden. Auf alten Postkarten sehen wir, wie das Dorf Balakowo Ende des 19. Jahrhunderts aussah,

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aber die heutige Stadt Balakowo ist stark gewachsen und hat sich sehr verändert. Und obwohl hier relativ viele alte Häuser erhalten geblieben sind, war uns völlig unklar, wo wir „unser“ Haus zu suchen hatten. Das einzige anschauliche Zeugnis dieses Haus war ein von Lida Rauschenbach (der Tochter von Wladimir und Ekatherina) vermutlich vor dem Ersten Weltkrieg gemaltes Bild, das Michail Paweljew aufbewahrt hat:

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Küche des Hauses in Balakowo

Schade, dass sich die junge Künstlerin auf die Küche beschränkt hat, das Haus wäre für uns viel nützlicher gewesen. Im Hintergrund sind Berge auf der anderen Seite der Wolga zu sehen, aber das ist auch schon alles, was die Lage des Hauses irgendwie beschreibt.

Kurz vor Beginn unserer Expedition ist es uns gelungen, Kontakt zum bekannten Journalisten und Heimatforscher Jurij Kargin, Autor vieler interessanter Publikationen zur Geschichte von Balakowo, einschließlich der „Volksenzyklopädie Balakowo“, herzustellen. Als Jurij von unseren Expeditionsplänen erfuhr, bot er uns freundlicherweise seine Hilfe an. Nach unserer Ankunft in der Stadt telefonierten wir und trafen uns noch am gleichen Abend, der sich als Beginn einer „Museen-Nacht“ in Balakowo herausstellte. Unser Treffen fand im Radischtschew-Kunstmuseum statt, wo wir uns mit großem Vergnügen eine Reihe musikalischer und literarischer Darbietungen ansahen, die von Einwohnern der Stadt vorbereitet worden waren. Leider waren wir nach unserem Ausflug in die Steppe sehr müde und konnten darum nicht so lange bleiben, wie wir gerne gewollt hätten.

 

Tag vier. Balakowo. Rückkehr

Am nächsten Tag organisierte Jurij für uns eine Exkursion zu den interessantesten Plätzen in Balakowo. Es war ein Sonntag. Zuerst besuchten wir den Morgengottesdienst in der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit. Das im neorussischen Stil erbaute Gotteshaus wurde 1911 nach Entwürfen des berühmten Architekten F. O. Schechtel, eines ethnischen Deutschen aus Saratow, für lokale Altgläubige errichtet, die der Gemeinde der Hierarchie von Belaja Krinitza angehörten. Finanziert wurde die Kirche aus den Mitteln des Kaufmanns und Brothändlers Anissim Malzew, dem Balakowo viele wohltätige Werke verdankt.

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In der sowjetischen Zeit wurde die Kirche zuerst ausgeplündert und dann bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Zuerst befand sich darin das Tschapajew-Theater, danach ein Getreidespeicher, ganz zum Schluss ein fabrikinternes Kulturhaus. Der Wiederaufbau der Kirche unter der Leitung des Erzpriesters Anatolij Schumow begann nach der Übergabe des Gebäudes an die russisch-orthodoxe Kirche im Jahre 1989 und dauerte etwa 20 Jahre. Die Stadtverwaltung und viele Bürger beteiligten sich an dem Unternehmen. Die architektonischen Vorzüge des aus dem Nichts wiedererrichteten Gebäudes kann man anhand der Fotografien beurteilen. Nicht ohne Bedauern möchten wir jedoch anmerken, dass die Akustik weit hinter der Architektur zurückbleibt.

Danach führte uns Jurij zur Villa von Paissij Maltsew, dem Bruder von Anissim Maltsew. Die herrliche Villa, man möchte fast sagen Palast, wurde im Jahre 1888 von dem Saratower Architekten F. I. Schuster erbaut und später von F. O. Schechtel rekonstruiert. Das Anwesen wird manchmal auch als „Peterhof an der Wolga“ bezeichnet.

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Foto: W. Kakorin

Während unseres Spaziergangs durch die Stadt stellten wir überrascht fest, dass es hier noch viele alte Häuser gab, die die zahlreichen Bauprojekte des Komsomol und andere, im starken Kontrast stehende Bauten der sowjetischen Epoche überlebt haben. Wie gerne hätten wir auch unser Häuschen gefunden! Doch diese Aufgabe muss unseren künftigen Expeditionen vorbehalten bleiben. Jurij Kargin führte uns in jenes Stadtviertel, wo sich einst der 17. Bezirk befand. Wir wanderten durch die Straßen und Gassen und fotografierten aufs Geratewohl.

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Vielleicht befindet sich ja irgendwo darunter auch unser Haus – wenn es überhaupt erhalten geblieben ist.

Zum Abschluss unserer Exkursion gingen wir über den Damm auf das andere Ufer der Wolga, von wo sich uns ein Panoramablick auf den künstlichen See und auf die ganze Stadt Balakowo bot.

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Und so ging unsere Expedition 2013 ihrem Ende zu. Wolodja Kakorin fuhr uns bis nach Engels, wo wir übernachteten, und fuhr dann selbst zurück ins heimatliche Wolschski. Am nächsten Tag fuhren wir nach Saratow, spazierten entlang der ehemaligen Nemezkaja Uliza (Deutsche Straße, heute eine Fußgängerzone) und brachen dann nach Moskau auf, wo wir auch wohlbehütet ankamen.

Gott sei Dank ist es uns gelungen, unsere wichtigsten Expeditionsziele zu erreichen: wir waren am Grab Jakob Müllers und haben – was wir für die schwierigste Aufgabe gehalten hatten – das Bauerngut Rauschenbach gefunden. Auffinden ließen sich auch zwei „unserer“ Häuser in Saratow. Für den Fall, dass wir oder jemand anderes aus unserer Familie weitere Expeditionen unternehmen sollten, gilt es aber noch eine Menge anderer Aufgaben zu erfüllen. Wichtigste Aufgabe: alle Häuser der Rauschenbachs müssen gefunden werden, zuerst in den Archiven und danach auch in Saratow selbst. Wenn möglich, sollten auch die Dokumente zum 17. Bezirk und unseren Grundstücken in Balakowo gefunden und diese Orte danach auch in natura besichtigt werden. Und natürlich muss auch unserem Bauerngut ein Besuch abgestattet werden, die Standorte der wichtigsten Gebäude müssen ermittelt werden und es muss die Frage geklärt werden, auf welchem Teich unsere Vorfahren mit dem Boot segelten …

Zum Abschluss würde ich gerne all jenen danken, die mit Rat und Tat zum erfolgreichen Gelingen unserer Expedition beigetragen haben. An erster Stelle den Mitgliedern des Forums wolgadeutsche.net, hier vor allem dem Gründer des Forums Alexander Spack sowie allen, die in den Themen „Bauerngut Rauschenbach“, „Die Deutschen in der Geschichte Balakowos“ u.a. geschrieben haben. Ich weiß nicht, wie lange wir unsere Vorfahren Müller noch gesucht hätten, wenn wir nicht Hilfe von Alexander Winter bekommen hätten. Nadeshda Gusewa und Wjatscheslaw Davydow halfen uns bei der Häusersuche in Saratow. Ohne Jurij Kargin hätten wir in Balakowo nur wenig gesehen. Ohne Elena Schmidt hätten wir Jurij Kargin nicht kennengelernt und ohne Iwan Pleschakow wäre unsere Bekanntschaft mit Wjatscheslaw Dawydow nicht zustande gekommen, usw. Es ist jetzt schwierig, alle Glieder der Kette zu rekonstruieren; es waren alles freundliche Menschen, die uns selbstlos ihre Hilfe anboten, und ich möchte mich bei allen entschuldigen, die ich nicht namentlich erwähnt habe. Am meisten zu unserem Erfolg beigetragen haben Galina Galygina vom Zentralen Staatsarchiv Saratow, die uns mit Karten und Archivdokumenten versorgt hat, und Wladimir Kakorin, der nicht nur den Standort des Bauernguts ermittelt hat, sondern uns auch direkt dorthin gebracht und uns gleichzeitig auf der Wiesenseite von Tarlykowka nach Balakowo gefahren hat.

 

Georg Rauschenbach

Moskau, 29.08.2013