Die Geschichte der Kolonisationsmaßnahmen in Russland

Die Geschichte der Kolonisationsmaßnahmen in Russland

Die Geschichte der Kolonisationsmaßnahmen in Russland

 

Es macht Sinn, die russische Kolonisationspolitik des 18. Jahrhunderts im Kontext der allgemeinen Kolonisationsmaßnahmen der europäischen Staaten der damaligen Epoche zu betrachten, so wie es Grigorij Pisarewskij in seiner mittlerweile zum Klassiker avancierten Monografie „Aus der Geschichte der ausländischen Kolonisation in Russland im 18. Jahrhundertvorgemacht hat. Im Folgenden geben wir eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Thesen aus den ersten beiden Kapiteln dieses Buches und ergänzen sie mit unseren eigenen Beobachtungen und Schlussfolgerungen. Weitere Informationen findet man beispielsweise bei Pisarewskij sowie in anderen Büchern, auf die wir in dieser Rubrik verweisen .

 

Ab dem 17. Jahrhundert, vor allem aber im 18. Jahrhundert, waren viele europäische Mächte um eine Zunahme des Bevölkerungswachstums bemüht. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden solche Maßnahmen ergriffen wie Geburtenförderung, Begrenzung der Auswanderung und Begünstigung der Einwanderung. Den damals vorherrschenden populationistischen Theorien zufolge, bereitete ein Anwachsen der Bevölkerung einen sicheren Weg zu Wohlstand und Stärke eines Staates. Das Problem einer möglichen Überbevölkerung wurde dabei nicht einmal auf lange Sicht in Erwägung gezogen. Eine ganze Reihe von europäischen Ländern verfügte über brachliegendes, unbesiedeltes und unbebautes Land, während das natürliche Bevölkerungswachstum, eingeschränkt durch hohe Kindersterblichkeit, Seuchen und Kriege, nicht hoch genug ausfiel. Zu den ersten Großprojekten zur Förderung der Immigration können wir den Aufruf des Großen Kurfürsten von Preußen, Friedrich Wilhelm (1685), zählen, der in erster Linie den französischen Glaubensbrüdern, den Hugenotten, galt. Das von Friedrich Wilhelm veröffentlichte Manifest versprach den Einwanderern Hilfe bei der Umsiedlung, Zuteilung von Siedlungsland innerhalb des bis nach Königsberg sich erstreckenden preußischen Territoriums, zollfreie Einfuhr des Vermögens, Vergabe von Baugrundstücken und Baumaterialien. Landwirten wurde Landbesitz, Steuerbefreiung für 10 Jahre und andere Privilegien, einschließlich der finanziellen Unterstützung für Fabrik- und Manufakturbesitzer, zugesprochen. Diese Wohltaten nahmen etwa 20000 französische Hugenotten, später auch viele Tausend Schweizer sowie Auswanderer aus der Pfalz und dem Salzburger Episkopat, in Anspruch. Ihre größten Erfolge erreichte die Kolonisationspolitik Preußens aber während der Herrschaft Friedrichs des Großen (1740 - 1786), als die Sonderrechte der Kolonisten ausgeweitet wurden, die nun die finanzielle Unterstützung bei der Umsiedlung, die Bereitstellung staatlicher Fuhren für den Transport, die Befreiung von der Wehrpflicht für drei Generationen u.a. Privilegien einschlossen. Allein während der Herrschaft Friedrichs II. wurden für diese Zwecke um die 25 Millionen Taler ausgegeben. Das Ergebnis war nicht von der Hand zu weisen: im Zeitraum 1640 bis 1786 (dem Todesjahr Friedrichs II.) waren gut 500000 Menschen – 10% der gesamten Landesbevölkerung – nach Preußen eingewandert. Auch Österreich war bestrebt, dem Beispiel Preußens zu folgen, doch fielen die Ergebnisse in seinem Fall deutlich bescheidener aus. Zuletzt beschloss sogar Dänemark, das über keine großen Gebiete verfügte, Kolonisten anzuwerben, die das sumpfige und sandige Ödland besiedeln und die industrielle Entwicklung vorantreiben sollten. In den Jahren 1723, 1748 und 1751 veröffentlichten dänische Könige Manifeste und Erlasse, die den Auswanderern Religionsfreiheit garantierten und Vergünstigungen verhießen, die Ähnlichkeit mit den preußischen besaßen. Bis zum Beginn des Siebenjährigen Krieges trugen alle diese Maßnahmen jedoch kaum Früchte. Mit der zunehmenden Ausbreitung des Krieges und der Verarmung der Bevölkerung in den am Kriege beteiligten Ländern stieg die Zahl der auswanderungswilligen Menschen jedoch deutlich an, woraufhin die dänische Regierung im Jahre 1759 ihre Kolonisationspolitik forcierte und ihren Botschaftsrat in Frankfurt, Moritz, damit beauftragte, Landwirte anzuwerben (wobei Moritz einen Louisdor für jeden Kolonisten erhielt). Die beträchtlichen Kosten, die sich in einer siebenstelligen Talersumme niederschlugen, führten jedoch nur zu relativ bescheidenen Ergebnissen. Viele Kolonisten erwiesen sich als unfähige Landwirte und waren bald bezwungen, Dänemark wieder zu verlassen, so dass zum Jahre 1764 nur noch einige Tausend Einwanderer übrig geblieben waren. Ein Teil von ihnen kehrte in die Heimat zurück, andere beschlossen, dem Manifest der Kaiserin Katharina II. zu folgen und ihr Glück in Russland zu versuchen. Doch darüber müssen wir ausführlicher berichten.

In Russland waren die Kolonisationsmaßnahmen der europäischen Mächte nicht unbemerkt geblieben. Russland selbst besaß ungleich mehr unbebautes Land, das zum Teil auch immer wieder von nomadischen Reiterstämmen überfallen wurde. Die Leibeigenschaft machte eine freie Migration innerhalb des Landes unmöglich und das natürliche Bevölkerungswachstum war unzureichend. Das erste Kolonisationsprojekt wurde im Jahre 1752, während der Herrschaft der Kaiserin Jelisaweta Petrowna, ins Leben gerufen. Initiiert wurde es von dem Franzosen de Lafon, einem in russischen Diensten stehenden Brigadier und Protestanten. De Lafon schlug vor, seine Landsleute und Glaubensbrüder, die in Frankreich aufgrund ihres Glaubens verfolgt wurden, zur Auswanderung nach Russland zu bewegen. Neben der uneingeschränkten Religionsfreiheit wurden den Auswanderern verschiedene Zuwendungen, Vergünstigungen und Präferenzen versprochen. Kanzler Bestuschew-Rjumin begrüßte de Lafons Projekt und trug es der Kaiserin vor, woraufhin die Kaiserin eine vom Kanzler geleitete Kommission mit der detaillierten Ausarbeitung dieser Frage beauftragte. Die endgültigen „Konditionen“ des Aufrufs an die Kolonisten wurden im Kollegium für auswärtige Angelegenheiten abgestimmt und beinhalteten die uneingeschränkte Religionsfreiheit sowohl für Protestanten als auch für Katholiken, eine Befreiung von Abgaben und Steuern für 20 Jahre, das Recht, jederzeit ungehindert aus Russland ausreisen zu dürfen, Darlehen in Geld- und Sachform, Geld für die Durchfahrt nach Russland, spezielle Vergünstigungen für Fabrikanten, Verpflegungsgeld für Handwerker usw. Es war geplant, Küstenstädte als Sammelstellen zu bestimmen, von wo die Kolonisten auf eigens gemieteten Schiffen nach St. Petersburg gebracht werden sollten; vorgesehen waren außerdem diverse organisatorische Maßnahmen zur Anwerbung von Kolonisten. Obwohl das Projekt noch im Januar 1753 dem Kanzler übergeben wurde, ordnete die Kaiserin erst im April 1754 dessen Prüfung im Senat an, wo das Projekt dann auch für immer stecken blieb. Als bald darauf der Siebenjährige Krieg ausbrach, wurde die Aufmerksamkeit der Regierung von der Kolonisation weg gelenkt, auch wenn es in den folgenden Jahren noch andere Projekte gab. Und doch kann abschließend gesagt werden, dass die Frage der Anwerbung ausländischer Kolonisten in Russland bereits zur Zeit Jelisaweta Petrownas sehr ernst erörtert und durchgearbeitet wurde.

Kaiserin Katharina II., eine aufgeklärte Monarchin, maß den bereits erwähnten populationistischen Theorien eine ganz besondere Bedeutung bei. Noch als Großfürstin schrieb sie: „Wir brauchen mehr Bevölkerung. Die Weiten unseres Ödlandes sollen wimmeln vor Menschen; zwingt sie dazu, wenn möglich. Ich denke nicht, dass es im Sinne dieses Zieles wäre, unsere nicht-christlichen Ausländer zur Annahme unseres Glaubens zu zwingen; die Vielehe ist für die Vermehrung der Bevölkerung nur von Nutzen“ (Zitat nach [1, S. 45]). Was die wirtschaftlichen Anschauungen der Kaiserin betraf, so erkannte sie die Landwirtschaft als wichtigste produzierende Arbeit und Quelle des Reichtums einer Nation an und stand damit den Lehren der Physiokraten nahe. Da die Kaiserin die Kolonisation also als eine Angelegenheit betrachtete, die – vor allem in Hinsicht auf die Verbesserung der Landwirtschaft – keinen Aufschub duldete, überreichte sie dem Senat am 14. Oktober 1762, nur wenige Monate nach ihrer Krönung, ein von eigener Hand verfasstes Dekret mit der Verordnung, „ein und für alle Mal“ und „ohne weiteren Aufschub“ allen einreisewilligen Ausländern, mit Ausnahme der Juden, die Ansiedlung in Russland zu gestatten. Am 4. Dezember gab Katharina ein Manifest heraus, das alle Ausländer (wiederum mit Ausnahme der Juden) zur Auswanderung nach Russland aufrief und ihnen die Gunst und den Schutz der Monarchin versprach. Das in mehrere Sprachen übersetzte Manifest wurde in Hunderten von Exemplaren gedruckt und mit der Anweisung, es in Zeitungen zu veröffentlichen, an russische Diplomaten verschickt. Allerdings enthielt dieses erste Manifest keinerlei Konkretheiten – unklar blieb, welche tatsächlichen Leistungen den Einwanderern in Aussicht gestellt wurden, wie die künftigen Einwanderer vorzugehen und an wen sie sich zu wenden hatten, ob sie finanzielle Unterstützung für ihren Umzug nach Russland erhalten würden usw. Am 22. Juli 1763 wurde ein zweites Manifest herausgegeben, das fortan den Eckpfeiler der Kolonisierung bildete. Am gleichen Tag wurde auch ein spezielles Verwaltungsorgan für die aktive Umsetzung dieser Kolonisierungsmaßnahmen ins Leben gerufen: die Kanzlei der Vormundschaft der Ausländer. In ihren Rechten und Befugnissen war sie den Kollegien gleichgestellt, besaß also den Charakter eines Sonderministeriums, das direkt der Kaiserin unterstand. Zum Präsidenten der Kanzlei berief die Kaiserin den Mann, der ihr am nächsten stand – den Grafen Grigori Orlow. Die schleppende Arbeit im Senat stand der Umsetzung der Kolonisierung nun an nicht mehr im Wege. Das Manifest vom 22. Juli versprach den künftigen Auswanderern viele Vorteile. Listen wir die wichtigsten davon auf:

 

1. Allen Ausländern wird gestattet, sich in einem beliebigen russischen Bezirk niederzulassen. Wer über keine eigenen Mittel verfügt, um selbst für seine Ausreise aufzukommen, kann sich an die diplomatischen Agenten Russlands in seinem jeweiligen Land wenden, die dafür sorgen werden, dass die Ausreise auf Kosten des Staates gewährleistet wird.

 

2. Nach ihrer Ankunft in Russland sind die Ausländer dazu verpflichtet, einen Treueid abzulegen und anzugeben, ob sie sich als Kaufleute oder Handwerker registrieren lassen oder ob sie sich in Kolonien auf geeignetem Ackergrund niederlassen wollen.

 

3. Den Ausländern werden die folgenden Rechte und Privilegien gewährt:

 

a) freie Ausübung des Glaubens nach ihren eigenen Riten;

 

b) Befreiung von Steuern, Abgaben, Pflichten und Leistungen für 30 Jahre für Kolonisten, für 5 Jahre für alle, die sich in St. Petersburg oder Moskau, sowie in baltischen, ingermanländischen, karelischen und finnischen Städten angesiedelt haben, und für 10 Jahre für die, die sich in allen übrigen Städten niedergelassen haben; Befreiung vom Militär- und Zivildienst für immer;

 

c) ausreichend Grund für den Ackerbau bzw. für die Gründung von Fabriken und Anlagen;

 

d) Fabrikanten und Fabrikbesitzer dürfen Leibeigene und Bauern kaufen;

 

e) ein zinsloses Darlehen für den Bau von Häusern, für den Erwerb von landwirtschaftlichen Geräten und Werkzeugen, Waren und Materialien; die Rückzahlung der Darlehen war innerhalb von drei Jahren nach Ablauf einer zehnjährigen Frist vorgesehen;

 

f) ein Recht auf zollfreie Einfuhr des gesamten Vermögens, woraus auch immer es bestehen mag, sowie von Waren, die für den Verkauf bestimmt sind, im Wert von bis zu 300 Rubel pro Familie; das Recht, jederzeit das Land verlassen zu dürfen;

 

g) die Siedler der Kolonien unterstehen einer autonomen inneren Jurisdiktion ohne Einmischung der russischen Behörden, müssen sich aber dem russischen Zivilrecht unterwerfen;

 

h) das Recht, steuerfrei Handel zu treiben;

 

i) ab dem Zeitpunkt des Überschreitens der russischen Grenze und bis zur Ankunft am Bestimmungsort werden unentgeltlich Verpflegungsgeld und Fuhren zur Verfügung gestellt.

 

Dem Manifest war ein Verzeichnis der für die Besiedlung bestimmten Gebiete in Sibirien sowie in den damaligen Bezirken Astrachan, Orenburg und Woronesch beigefügt, wobei es aber nicht verboten war, sich auch in anderen freien Gebieten anzusiedeln.

 

Ursprünglich ging man davon aus, dass die Anwerbung und Umsiedlung der Kolonisten in vollem Umfang von den diplomatischen Agenten (Ministern und Residenten) Russlands durchgeführt werden würde, die vom Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten mit entsprechenden Reskripten versehen worden waren. Der russische Resident in Danzig, Iwan Rebinder, begann als erster mit der Anwerbung von Kolonisten; ihm folgten Fürst Dolgorukow (Berlin), Graf Woronzow (London), Musin-Puschkin (Hamburg), Simolin (Regensburg) und andere. Zwischenfälle waren unvermeidlich: unter den angeblichen Kolonisten fanden sich auch Betrüger, die nach Erhalt der Reisegelder untertauchten, manchmal ergriffen die Siedler auch schon auf dem Weg nach Russland die Flucht, aber auch bei weitem nicht alle Wege nach Russland garantierten einen guten Ausgang der Reise. Simolin schlug vor, in der Hafenstadt Lübeck das Amt eines Sonderkommissars einzurichten, an den unsere diplomatischen Agenten die Kolonisten in Gruppen entsenden würden und der dann seinerseits den Abtransport der Kolonisten auf dem Seeweg nach Russland organisieren würde. Dieser Vorschlag wurde von der Kaiserin genehmigt, woraufhin im Februar 1764, nach Vermittlung durch Musin-Puschkin, der Lübecker Kaufmann Heinrich Christopher Schmidt zum Kommissar ernannt wurde. Ab da ging der Abtransport der Kolonisten vom Territorium der deutschen Staaten auf ideale Weise vonstatten. Gleichzeitig ergriffen russische Diplomaten energische Maßnahmen zur Verbreitung des Manifests. Es muss hier angemerkt werden, dass das russische Projekt von Staaten, die selbst eine Kolonisationspolitik betrieben, allen voran Österreich und Preußen, in denen die Emigration unter Androhung der Gefängnisstrafe verboten war, feindlich aufgenommen wurde. Spanien und Frankreich hatte die Ausreise noch im 17. Jahrhundert verboten; in England und Holland, die ihre eigenen Kolonien besaßen, war es schwierig, jemanden zu finden, der an einer Ausreise nach Russland Interesse gehabt hätte. Somit hatte sich das Betätigungsfeld der russischen Diplomaten deutlich verengt. Um die Anwerbung von Kolonisten intensiver voranzutreiben, wurde beschlossen, auf die in den europäischen Staaten gesammelte Erfahrung im Anheuern von speziellen Werbern, wie dies bereits von Dänemark, Preußen und England im Rahmen ihrer Kolonialprojekte praktiziert worden war, zurückzugreifen. Dies galt umso mehr, da diese Menschen frei von Mängeln waren: nicht nur professionelle Werber boten der russischen Regierung ihre Dienste an, nicht nur ehemalige Pächter und Angestellte aus Dörfern, die durch den Krieg zerstört worden waren, nicht nur ausgediente Unter- und Oberoffiziere, sondern auch gebürtige Adlige und Angehörige des Klerus. Das Unternehmen versprach, Profit abzuwerfen: Die Dienste der Werber wurden im Verhältnis zu der Zahl der rekrutierten Kolonisten gut bezahlt. Neben den Werbern, die unter der Aufsicht der diplomatischen Agenten tätig waren, betrat im gleichen Jahre 1764 eine neue Kategorie von Teilnehmern des Kolonisationsprojekts die Bühne – die so genannten Aufrufer. Zu diesen gehörten einige vertrauenerweckende Ausländer, mit denen die Kanzlei besondere Verträge abgeschlossen hatte, die die Ausländer dazu verpflichteten, nicht nur eine bedeutende Anzahl an Kolonisten zu stellen (nicht weniger als einige Hundert Familien) und deren Transport zu den Sammelpunkten (in den meisten Fällen in Lübeck), von wo sie nach Russland weiterbefördert werden sollten, zu organisieren, sondern auch für deren Ansiedlung und Ausstattung in den jeweiligen Kolonien in Russland zu sorgen. Dementsprechend beschränkten sich auch die in den Verträgen zugesicherten Rechte der Aufrufer nicht allein auf die Provision, die sie für die Rekrutierung der Kolonisten erhielten. Sie konnten darüber hinaus – bei zuverlässiger Bürgschaft – mit erheblichen Zuschüssen für die Begleichung der Ausgaben rechnen, die ihnen durch die Rekrutierung der Kolonisten entstanden, ihnen wurden Grundstücke in den künftigen Kolonien versprochen und sie waren berechtigt, private Abkommen mit den von ihnen angeworbenen Kolonisten zu schließen, die ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kolonisten und Anwerbern schufen. Im Endeffekt entstanden neben Kolonien des Staates bzw. der kaiserlichen Krone auch Kolonien der Aufrufer. Die Tätigkeit der Aufrufer war im Grunde genommen eine privatunternehmerische, mit allen Vor- und Nachteilen, die sich daraus ergeben. Verglichen mit den diplomatischen Agenten, hatten die Aufrufer mehr Handlungsfreiraum und konnten auch in jenen Gebieten und Staaten aktiv werden, in denen die Emigration verboten war. Das unmittelbare Interesse der Werber an einem maximalen quantitativen Ergebnis sowie die Möglichkeit, mit hohen Geldsummen zu hantieren, bildeten für die Aufrufer den stärksten Anreiz, um aktiv zu werden. Sie intensivierten ihre Agitation in allen Schichten der Bevölkerung, indem sie Sammelstellen für Kolonisten organisierten und eigene Vermittler und Abgesandte anheuerten, die sie überallhin ausschickten. Alle diese Maßnahmen führten dazu, dass die Zahl der künftigen Kolonisten sprunghaft anstieg, was im Jahre 1766 ernste Probleme nach sich zog. Auf der anderen Seite scheuten die Aufrufer und ihre Abgesandten, bei denen es sich um Menschen mit nicht immer lupenreiner Vergangenheit und einem Charakter handelte, der bestenfalls als abenteuerlich bezeichnet werden konnte, so gut wie keine Mittel, um Profit herauszuschlagen. Entgegen der Absicht der Kanzlei, vor allen Dingen Landwirte anzuwerben, sammelten die Aufrufer jeden, der sich nur dazu überreden ließ, sein Glück in Russland zu versuchen – arbeitslose Tagelöhner und Handwerker, bankrotte Kleinhändler, ausgediente Soldaten und sogar halbe Landstreicher. In ihrem Konkurrenzkampf warben sich die Aufrufer gegenseitig die Kolonisten ab, was zu Skandalen und Prügeleien führte. Obendrein hatten sie auch keinerlei Skrupel, die russische Regierung zu belügen, indem sie sich unter anderem mit gefälschten Berichten bedeutende Zuschüsse erschlichen. Zu den Aufrufern, die, gemessen am Ausmaß ihrer Aktivität, am auffälligsten in Erscheinung traten, gehörten:

 

die Genossenschaft von de Boffe, de Precourt und d'Hauterive (1764);

 

die Genossenschaft Le Roy und Pictet (1765);

 

Baron Jean Jacques de Caneau de Beauregard (1765).

 

Sie allein stellten im Jahr 1766 etwa die Hälfte aller Kolonisten. Die Beziehungen der Kanzlei zu den Aufrufern gestalteten sich in unterschiedlicher Weise. Beide Genossenschaften lenkten recht schnell den Verdacht auf sich, Missbrauch zu betreiben und eigennützig zu handeln, so dass die Kanzlei ihre Verträge mit beiden Genossenschaften auflöste und vom Hamburger Magistrat sogar die Verhaftung und Auslieferung Le Roys und Precourts erwirkte, die im August 1766 zum Zwecke der Untersuchung nach St. Petersburg gebracht wurden. Baron de Beauregard, eine Figur von größerem Ansehen, konnte den Verdacht lange Zeit von sich fernhalten, doch letzten Endes stellte sich heraus, dass auch er es fertig gebracht hatte, die Regierung zu betrügen, und zwar um eine ansehnliche Summe. Doch hatte er zuvor noch, im Jahre 1767, Russland verlassen, um, wie er behauptete, zunächst einige Angelegenheiten in Ordnung zu bringen und anschließend mit seiner Familie zurückzukehren und sich mit ihr an der Wolga niederzulassen. Natürlich wurde er nie wieder in Russland gesehen. Um der Ehre dieses Aufrufers willen muss gesagt werden, dass er viel ernsthafter an die Ausfertigung und Erfüllung seines Vertrages mit der Kanzlei heranging als andere. Der Vertrag, der von der Kanzlei überarbeitet und bestätigt worden war, räumte denjenigen Mitarbeitern Beauregards, die im Range eines Offiziers standen, das Recht ein, ihre von anderen Staatsmächten verliehen bekommenen Ränge auch in Russland behalten zu dürfen, allerdings ohne Anspruch darauf, die russische Uniform tragen zu dürfen, und mit dem Vermerk im Pass: Hauptmann (Leutnant usw.) der Kolonie soundso. Vorgesehen war die Lieferung von 3000 Familien innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren, für die auf der Wiesenseite der Wolga in kompakter Anordnung Kolonien angelegt werden sollten. Später taufte Beauregard die künftige Siedlung auf den Namen Katharinenlehn mit offenkundiger Anspielung auf die Kaiserin. Die Hauptkolonie von Katharinenlehn erhielt den Namen Katharinenstadt, eine andere Kolonie wurde zu Ehren des Thronfolgers Paulskaja genannt und eine weitere erhielt zu Ehren des Präsidenten der Kanzlei den Namen Orlowskaja. Es ist unschwer zu erraten, nach wem die Kolonien Kano und Boregard benannt wurden. Auch die Kontrolle und die Buchführung waren bei Beauregard besser organisiert als bei anderen Aufrufern. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, brachen Beauregards Kolonisten auf gesonderten Schiffen aus Lübeck auf, ohne sich mit den Kolonisten der Krone bzw. denen anderer Aufrufer zu vermischen. Nach der Ankunft in Oranienbaum wurde ihnen Siedlungsgrund zugewiesen, das unter Beauregards Verwaltung stand, wo sie sich unter der Aufsicht und dem Schutz von Beauregards „Offizieren“ aufhielten. Auf dem Weg nach Saratow bewegten sich Beauregards Kolonisten in kompakten Einheiten, wobei neben den russischen Offizieren, die den Transport befehligten, auch Beauregards „Leutnants“ und „Hauptmänner“ Befehlsfunktionen innehatten, was manchmal zu Konflikten führte.

Wie auch immer die Rolle der Aufrufer zu bewerten ist, man muss konstatieren, dass es ihren Bemühungen und den Bemühungen der Abgesandten der Krone zugesprochen werden muss, dass sich im Jahre 1766 wesentlich mehr Kolonisten in Lübeck einfanden, als erwartet wurden. Die Schwierigkeiten, die sich aus einem solchen Zustrom von Menschen ergaben, wurden zur großen Belastung für das gesamte organisatorische System, einschließlich der Wohnungsfrage in Lübeck, der Probleme mit der Schiffsfracht, der Aufnahme und Einquartierung der Aussiedler in Oranienbaum, ihres Abtransports nach Saratow und schließlich ihrer Verteilung auf die Kolonien, wo man es schlicht nicht rechtzeitig geschafft hatte, die erforderliche Anzahl an Häusern zu bauen. Im November 1766 wurde die Anwerbung von Kolonisten eingestellt.

Unter dem Strich kann man sagen, dass das russische Kolonisationsprojekt der Jahre 1763-1766 im Hinblick auf die organisatorischen Anstrengungen und die erzielten Ergebnisse sehr erfolgreich war. Die Schwierigkeiten, mit denen sich die russische Regierung konfrontiert sah, waren unvergleichlich größer als diejenigen, die die preußische, österreichische oder dänische Krone zu überwinden hatten. Unsere Kolonisten mussten Entfernungen zurücklegen, die nach europäischen Maßstäben gewaltig waren. Die Reise nahm etwa ein Jahr in Anspruch und fand unter ungewohnt harten klimatischen Bedingungen statt. Sprache, Religion, Kultur und Traditionen der einheimischen Bevölkerung waren den Aussiedlern völlig unbekannt. Nicht zuletzt unterschied sich auch das Kontingent der Kolonisten, verglichen etwa mit dem der Immigranten Preußens, die im Laufe von Jahrzehnten in der neuen Heimat eintrafen, denn bei den Kolonisten Russlands handelte es sich in der überwiegenden Mehrheit um Menschen, die durch den Krieg in extreme Armut geraten oder von Krankheiten gezeichnet waren. Und dennoch: trotz der enormen Verluste sowohl unterwegs als auch in den ersten Jahren des Lebens an der Wolga, trotz Ernteausfällen, Überfällen der Kirgisen und des Terrors Pugatschows, legten die Kolonisten in den 1760er Jahren den Grundstein für die Entstehung eines Phänomens, das in der Geschichte Russlands einzigartig ist – das Wolgadeutsche Gebiet.

 

(Andreas Idt, Georg Rauschenbach. Auswanderung deutscher Kolonisten nach Russland im Jahre 1766, S. 124-130)

Quelle: www.wolgadeutsche.net