ARCHIV FÜR FAMILIENGESCHICHTSFORSCHUNG, Heft 4/2015
Andreas Idt, Georg Rauschenbach. Auswanderung deutscher Kolonisten nach Russland im Jahre 1766. Nestor-Historia-Verlag. Moskau - St. Petersburg, 2015. 320 S.
Der Prozess der deutschen Kolonisierung der mittleren Wolga-Region ist eng mit dem Namen der Kaiserin Katharina II. verbunden. Schon bald nach dem Machteintritt richtete sie an die europäischen Staaten ein Manifest (22. Juli 1763), in dem sie Bauern zur Kultivierung fruchtbaren Landes einlud und verschiedene Privilegien versprach. Die Initiative der Herrscherin passt sich auch in die Reihe der europäischen Praxis der Immigrantenaufnahme ein. Von dem Großen Kurfürsten (1685) bis zum Dänischen König (1723, 1748, 1751) haben die europäischen Herrscher gerne die treibenden Kräfte aus dem Ausland, meistens vom selben Glauben, aufgenommen.
Der Zustrom der Kolonisten nach Russland begann schon 1763, nahm 1764 und 1765 zu und erreichte seinen Höhepunkt im Jahre 1766.
Es schien, dass die Auflistungen der Familien, die aus verschiedenen deutschen Gegenden dem Ruf der Kaiserin Katharina II. an die Wolga-Region gefolgt waren, schon hinreichend erforscht gewesen seien. Ein amerikanischer Forscher, Brent Alan Mai, veröffentlichte im Jahre 1998 sogenannte Transportlisten mit 7501 Kolonisten, die von der Gegend St. Petersburg (Oranienbaum) nach Saratow wanderten. Es blieb aber unbekannt, wie viele Kolonistenzüge es gab und wann genau sie losgeschickt wurden und welche Marschwege sie ausgewählt hatten.
In den Listen des Beamten Johann Kuhlberg, die im Jahr 2010 von Prof. Dr. Igor Pleve veröffentlicht worden sind, sind 7381 Familien mit 22711 Menschen verzeichnet'. Die Urkunden selbst sind in russischer Sprache verfasst. Der Autor hat also eine Rückübersetzung durchgeführt, durch die Schreibfehler entstanden sind, die selbst einem aufmerksamen Leser kaum auffallen würden. Schon nach der Veröffentlichung der Kuhlberg-Listen ist es einem der beiden Autoren des hier neu anzuzeigenden Buches gelungen, im Urkundenarchiv von Russland (Abkürzung: RGADA) die Listen zu finden, in denen die Namen der Aussiedler in ihrer Muttersprache verzeichnet sind2. Das erste Teil dieses Buches stellt die Rekonstruierung des Auswanderungsprozesses im Jahre 1766 dar. Aufgrund der Urkunden aus dem Marinearchiv Russland in St. Petersburg (Abkürzung: RGA VMF) ist die Geschichte der Seereisen der Ostseeflotte rekonstruierbar - mit der Ausreise der Schiffe aus Lübeck und der Ankunft im russischen Hafen Kronstadt im finnischen Meerbusen. An dem Transport der Aussiedler nahmen russische Militärschiffe und Zivilschiffe mit englischen Seekapitänen an der Spitze teil. Als die Schiffe mit den Aussiedlern angekommen waren, schickte Kuhlberg erst eine Meldung an die Kanzlei und etwas später erst lieferte er die Namensliste. So waren zum Beispiel zwischen Kuhlbergs Meldung über die Ankunft des Barkschiffes „George" (am 24. Juli) und der Abschickung einer Namensliste am 12. September 1766 mehr als sieben Wochen verflossen. Im Buch von I. Pleve ist irrtümlich ein zweites Datum als Ankunft des Schiffes angegeben. Auf den Seiten 29-35 des Buchs befindet sich eine korrekte chronologische Tabelle der Ankunft der Schiffe mit den Kolonisten nach Kronstadt (vom 29.4.1766 bis 15.10.1766). Veröffentlicht wurden auch die Namen der Kolonisten, die auf eigene Gefahr und ohne die Inanspruchnahme der Dienstleistungen von Anwerbern in Russland angekommen sind. Im zweiten Teil sind die Einzelheiten des anfänglichen Lebens der Aussiedler auf russischem Boden berücksichtigt: Zoll, Quarantäne und Treueeid. Die Treueeid-Listen sind in diesem Buch zum ersten Mal veröffentlicht (S. 167-255). Es lässt sich feststellen, dass in den Kuhlberg-Listen viele Namen im Vergleich mit der Originalschreibweise nicht korrekt berücksichtigt wurden (s. Vergleichstabelle der Eides-, Schiffs-, Transport- und Erstsiedlerlisten S. 262-278).
Im dritten Teil ist der Transport der deutschen Ansiedler von Oranienbaum an die Wolga detailliert angegeben. Den Autoren ist es gelungen, die Marschwege der Kolonisten, die Gesamtzahl und Größe der Transporte, die Namen ihrer Kommandeure, die Reihenfolge und die ungefähren Daten der Abfahrt zu rekonstruieren. Zu finden ist auch eine rekonstruierte Passagierliste des Schiffs „Prinz Karl", das in den Kuhlbergslisten keine Erwähnung findet. Medizinisch-demographische Informationen zu den einzelnen Transporten wurden einer Analyse unterzogen. Einige Teile des Buches sind auch in deutscher Sprache angegeben: der Inhalt (S. 5-6), das Vorwort (S. 9) und der Namensindex (S. 284-317). Die emotionsgeladenen Rapporte der überlasteten Beamten der Kanzlei (S. 40-41) sowie die Bittschriften der Kolonisten (S. 43, 45-46), zahlreiche Zolldokumente und die Erinnerungen der ersten Siedler (S. 139-154) sind ebenfalls in deutscher Sprache zu finden - ebenso die Kommentare zu den zahlreichen Tabellen. Das Buch ist mit einen Namensindex mit ca. 6000 Familiennamen in deutscher und russischer Sprache versehen (S. 279-317). Auf der Webseite www.rauschenbach.ru (Rubrik „Geschichte") sind die Einführung, das Inhaltsverzeichnis, Schlusswort, Quellenverzeichnis und Namensverzeichnis auch auf deutsch angegeben. In der heutigen Genealogieforschung gibt es zwei heuristische Probleme: a) für immer mehr Interessente ist die Welt der Genealogie nur auf das Internet und den Computer beschränkt: Kirchenbücher-Online, Wikipedia, genealogische Programme, genealogische Foren usw. Es werden immer weniger Bibliotheken, direkte menschliche Kontakte und (Kirchen-)Archive, die ein wesentlicher Bestandteil der Forschung sind, genutzt, b) durch die geringere Anzahl von gedruckten Kopien bleiben viele wertvolle Werke der breiten genealogischen Allgemeinheit unbekannt. Wir wünschen uns, dass dieses Werk mit Übereinstimmung der Autoren auch einmal vollständig im Internet erscheinen kann.
Über die Autoren: Dr. rer.nat. Georg Rauschenbach ist Mathematiker und pensioniert (geb. 1945, Moskau); Andreas Idt (geb. 1955) ist Ingenieur in Burgrieden, Baden-Württemberg. •
Michael Katin-Jartzew
Igor Pleve, Liste der nach Rußland im Jahre 1766 angekommenen
Kolonisten, ..Rapporte von Iwan Kuhlberg". Saratow, 2010, 520 S.
RGADA, Best. 283, Rep. l, St. 61. Die Akten über Aufforderung
und Unterkunft der nach Rußland angereisten Ausländer, und
über ihren Zustrom in Hafenstädte. 1765-1767. Unter den
Urkunden verschiedener Art befinden sich u. a. die Treueid-Listen.